Skurril & sterbens komisch, das ist ja mittlerweile unser Motto im Duo Kallmer & Helm. So wird es auch am kommenden Samstag in Spenge wieder heiter und komisch, wenn auch nicht ohne Anspruch zugehen. Der Dichter Daniil Charms wird im Mittelpunkt der musikalischen Lesung stehen: Gedichte, Prosa und kleine Theaterstücke. Wir freuen uns auf einen musikalischen Abend, auf einen literarischen Abend, auf viel Unsinn, Wortakrobatik und Unfug. Uns macht schon das Proben viel Spaß! Also seien Sie am Samstag dabei.
Karten gibt es in der Stadtbücherei Spenge und an der Abendkasse.
11.11.23 | 19.30 Uhr | Stadtbücherei Spenge | Infos
Lesung zum Gedenken an die Pogromnacht 1938
Vor Schüler*innen der Holzkamp-Gesamtschule Witten habe ich heute anlässlich der Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938 aus dem Buch "Wir freuen uns und wir weinen - Zum Wiederaufbau der Herforder Synagoge" gelesen. Dort berichten noch einige betroffene jüdische Mitbürger*innen von den Ereignissen damals, teils auch, dass sie die Konzentrationslager überlebt hatten.
Die erste Veranstaltung fand statt vor dem 13. Jahrgang, die zweite vor 10er-Klassen der Schule. Im Gespräch im Anschluss konnten die Schüler*innen Fragen stellen und ins Gespräch kommen.
Bei den aktuellen weltweiten Problemen, finde ich solche Gespräche wichtiger denn je. So wurde auch heute von Seiten einiger Schüler*innen die Sorge ausgedrückt, ob genug geschieht, dass sich Verfolgung, Ermordung, Hass und Gewalt, Antisemitismus und Rassismus in dieser Form nie wiederholen können. Eine Sorge, die ich leider nur teilen kann.
Jon Fosse – Melancholie
Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.
Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?
Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.
Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.
Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.
„Wir lieben Wortverdreher und Wortakrobaten. Sie stellen die Welt auf den Kopf, schütteln sie, verulken sie, verachten und verdrehen sie einfach, bis aus dem ganzen Unsinn der Worte Sinn herauspurzelt. Und was uns da vor die Füße fällt, das verwortklauben wir, bis man nicht mehr anders kann, als sich darüber zu amüsieren.“
Todesvariationen von Jon Fosse
Ein Rückblick. Damals gefasste Gedanken zu einer Inszenierung von Matthias Hartmann, die ich im Bochumer Schauspielhaus 2005 gesehen habe.
In aller Kargheit präsentiert sich die Inszenierung der Todesvariationen von Jon Fosse am Schauspielhaus Bochum in der Regie von Matthias Hartmann. Gewissermaßen eine Abschiedsinszenierung, denn Hartmann wird Bochum als Intendant im Sommer in Richtung Zürich verlassen. Und Jon Fosse war einer jener besonderen Höhepunkte, die Hartmann neben den Stücken von Neil LaBute oder Botho Strauss während seiner Bochumer Zeit zu setzen wusste. Todesvariationen ist die dritte Inszenierung zum norwegischen Prosa- und Bühnenautor Jon Fosse. Matthias Hartmann inszenierte bereits Winter und Dieter Giesing das Stück Schönes in den Kammerspielen.
Ein leerer weißer Raum, in dem verloren ein einziger weißer Hocker steht. Vor der Bühne, in der ersten Reihe des Zuschauerraums, eine Mastspitze wie an einem einsamen Hafenbecken, die gleichmäßig im Wind bewegt, wie ein Metronom das Geschehen auf der Bühne begleitet. Vergänglichkeit und Wiederkehr. Das ist alles.
Auch die Lichttechnik beschränkt sich auf das Einfache und bringt damit zur Geltung, was nicht gesprochen oder gespielt werden kann. Da ist ein einziger weißer Scheinwerfer, der unmerklich während der Inszenierung vom linken Bühnenrand zum rechten wandert. Er wirft die Schatten der Personen auf den Bühnenhintergrund. Sie zeichnen sich mal größer, dann wieder kleiner ab, je nach Position der Akteure im leeren Raum. Manchmal scheinen die Schatten die Figuren sogar zu verschlucken. Die Veränderung geschieht fast unmerklich und ist dennoch präsent. Das wiederholt sich, wenn der Scheinwerfer am Ende einer Szene – während eines Standbildes – an den linken Bühnenrand zurückfährt und sich alles – von dort beleuchtet – erneut schattenhaft vollzieht. Die Zeit ist ein zentrales Element des Stückes, in der Gestaltung der Bühne (Karl-Ernst Herrmann) ebenso, wie im Licht und in der Sprache.
Mit wenigen Mitteln wird die Leere des Fossestückes getragen, das sechs Akteure auf diese Bühne bringen. Die Dialoge sind minimalistisch kurz, die Bewegungen zurückgenommen und auch die Handlung ist schnell erzählt.
Eine junge Frau hat sich das Leben genommen, ihre Eltern verzweifeln bei dem Versuch, dies zu erfassen. Sie blicken zurück auf ihr Leben, ihre Ehe, die Geburt der Tochter, ihre Entzweiung, die Trennung, auf Schmerz und Abschied.
Links stehen während der ganzen Zeit fast unbewegt Der alte Mann und DieAlte Frau, zwei namenlose Menschen, gespielt von Hans-Michael Rehberg und Barbara Nüsse. Rechts spielt sich Vergangenes ab: das Paar in jungen Jahren (Sabine Haupt und Patrick Heyn), die Tochter (Cathérine Seifert) und ein merkwürdiger Freund, der die Tochter umgibt, sich ihr nähert, sich wieder entfernt und sie im Moment des Todes unwiderruflich und für immer in seine Arme schließt. Die Personifizierung des Unaussprechlichen, des Todes.
Im Stück verschwimmen die Zeiten, wird Vergangenes gegenwärtig und umgekehrt. Beeindruckend entsteht hier räumlich, wie sich eine Generation in der nächsten abbildet, sich Eingefahrenes wiederholt, sich Auswegloses mechanisch und unerbittlich wieder von neuem abspielt.
Wiederholungen und Pausen sind auch im aktuellen Stück von Jon Fosse stilbildende Elemente seiner Sprache. Sätze werden abgebrochen und verharren im Unausgesprochenen, immer die gleichen Fragen Was ist?, immer die gleichen Antworten nichts. Immer und immer wieder. Ausdrücke, die eine gebräuchliche Sprache auf Inhaltslosigkeit zu reduzieren scheinen. Sprache, die in den ständigen Pausen verstummt. Das ist das Eigentümliche bei Fosse: Seine Stücke gleichen einer Partitur, die auf den Rhythmus der Worte, auf die Länge der Pausen genauso viel Wert legt, wie auf die Noten selbst. Was die Schauspieler auf der Bühne in wenigen Gesten andeuten, bereitet vor, was sich in der Pause, im Unausgesprochenen entwickelt.
Wenn das so ausgezeichnet dramatisiert und gespielt wird wie in Bochum, dann wird die Sprachlosigkeit zum Inhalt, dann wird die Pause zum tragenden Element der Inszenierung. Aus ihr heraus entsteht die eigentliche Bedeutung des Stückes. Hier hat Fosses Stil viel mehr Verwandtschaft mit dem Becketts, als in dem immer wieder zitierten Vergleich mit Ibsen zum Ausdruck käme.
Das, was zwischen den Worten liegt, was die Menschen in ihrer Leere und Einsamkeit nicht zu sagen vermögen, dringt aus der kargen Situation in aller Klarheit hervor. Das Unsichtbare wird einen Moment lang sichtbar. Fosses Stücke sind musikalisch-sprachliche Verdichtungen, eine „Dramatik des Unhörbaren“.
Reservierungen für Lesung im Onikon
Für die musikalische Lesung „Heiter, skurril & sterbens komisch“ (Duo Kallmer & Helm) im Onikon-Kino in Herdecke am 28.10.2023 (20 Uhr) können Sie ab sofort Reservierungen unter info@michael-helm.de vornehmen.
Schicken Sie mir einfach eine Mail mit Ihrem Namen und der Zahl der gewünschten Karten. Die reservierten Karten sollten am Aufführungsabend bis spätestens 15 Minuten vor Beginn abgeholt werden und können auch dann bezahlt werden. (Einlass ab 19 Uhr, freie Platzwahl)
Auftrittsimpressionen
Hier einige Impressionen unseres Auftritts am 09. September 2023:
Die Vorlesewerkstatt war ein Projekt der Aktion „Herford liest ein Buch“, initiiert und organisiert vom Förderverein der Stadtbibliothek Herford, Buch.Bar.
hinten: Michael Helm | Lennard Haubrich | Jan-Hendrik Lobstein | Lennert Waletzko vorne: Maximilian Holtkamp | Anabel Koop | Emily Pautz | Maliha Ahmed
Sechs Wochen hatten die Jugendlichen aller Herforder Schulen an Texten zum Erwachsenwerden in den 1980ern und den 2020ern gearbeitet, ein Coming Of Age zweier Jahrzehnte. Die Lesung war unsere Abschlussveranstaltung in der Stadtbibliothek Herford.
Hat Spaß gemacht. Danke an alle!
Auftritt der Herforder Vorlesewerkstatt
oben: Michael Helm | Lennard Haubrich | Jan-Hendrk Lobstein | Lennert Waletzko unten: Maximilian Holtkamp | Anabel Koop | Emily Pautz | Maliha Ahmed
Es war ein schöner Abend am 09. Sept. 23 zum Abschluss unseres Vorleseprojekts im Rahmen von "Herford liest ein Buch".
Danke für die Unterstützung der Sparkasse Herford, der Carina-Stiftung, des Fördervereins der Stadtbibliothek Herford Buch.Bar und der Stadtbibliothek Herford.
George Orwell – 1984
Die nächste Lesung in Spenge behandelt das Meisterwerk von George Orwell.
„1984“ ist als Roman eine aktuell gebliebene Mahnung. Das Werk thematisiert die Methoden eines autoritären, technokratischen Überwachungsstaats genauso, wie die Manipulation von Fakten zur Desinformation seiner Bürger*innen oder die Kontrolle durch Sprache. Im Zentrum steht die Frage nach der Individualität des Menschen in einem autoritären Regime. Auch wenn Orwell 1948 vornehmlich die Kritik am Sowjetkommunismus vor Augen hatte, sind dies Fragen, mit denen wir uns heute auseinandersetzen müssen, wenn auch die technischen Möglichkeiten längst ganz andere geworden sind.
"1984" ist für mich eigentlich kein Science Fiction-Roman. Orwell drehte einfach die Jahreszahl der Entstehung des Textes um. So entstand der Titel 1984 und eine der bekanntesten Dystopie der Weltliteratur.
Lesen werde ich aus der Übersetzung von Eike Schönfeld. Diese gelungene Neuübersetzung ist eine von vielen in der letzten Zeit. Auch dies ein Hinweis für die Aktualität des Buches.
13.09.23 | 19.30 Uhr | Stadtbücherei Spenge | Infos
Lärm, Lärm, Lärm
Ein von mir sehr geschätzter Autor und Essayist mahnte einmal vor den Noise-Cancelling-Kopfhörern, wie sie im modernen Sprachgewirr gerne heißen. Es handelt sich um die Kopfhörer, die viele Außengeräusche ausfiltern und dem Hörer Stille und Ruhe schenken.
Meiner Formulierung entnehmen Sie, dass ich mich seiner Meinung ausnahmsweise nicht vollumfänglich anschließen möchte. Er beklagt, dass da Menschen herumlaufen, die für keine Form der Kommunikation mehr zugänglich sind. Sie stehen am Bahnhof, mitten im Gewühl, und bekommen gar nichts mehr mit. Es ist schwer, sie anzusprechen. Sie hören nicht. Sie sind abgewandt, gänzlich verinnerlicht. Sie reagieren nicht. Sie stehen nur da.
In den Worten des Autors sah ich mich selbst dort stehen. Alle Welt redet auf mich ein. Ich bekomme nichts mit. Starre und schweige. Doch, ein erschreckendes Bild. Aber!
In den letzten Jahrzehnten habe ich festgestellt, dass es mir immer schwerer fällt, das alles auszuhalten: stupide, sich widersprechende Durchsagen der Deutschen Bahn, der Lärm der permanenten Baustellen und Fahrzeuge aller Art, das permanente Gequassel der Menschen um mich herum. Lärm, Lärm, Lärm. Akustische Reizüberflutung überall.
Früher wohnten wir in einem kleinen Ort ziemlich ruhig. Heute arbeitet das Metallwerk in der Nähe fast vierundzwanzigstündig, der Steinbruch wurde erweitert, die Bundesstraße ist wegen des erheblich gewachsenen Autoverkehrs bis tief in die Nacht permanent hörbar und ihr unterschwelliges Rauschen ein andauernder Reiz. Und wenn dann endlich Ruhe einkehrt, stört fast nächtlich ein Raser unseren Schlaf, der um Punkt Elf den Motor zur Vergrößerung seines Egos aufheulen lässt und seine immer zu uns wiederkehrenden Runden zieht. Ich schweige hier von Laubbläsern, Motorsägen und anderen hübschen Geräten, von denen ich mir habe sagen lassen, dass viele von ihnen längst viel leiser produziert werden könnten, dass sich aber nur ihre lärmenden Geschwister gut verkaufen ließen. Was gut ist, muss brummen!
Ich konnte irgendwann nicht mehr. Unterwegs im Zug will ich hin und wieder ein wenig Ruhe haben oder noch etwas vorbereiten für den nächsten anstrengenden Termin. Ich gebe zu, schlecht abschalten zu können, wenn neben mir zwei geschäftliche Handygespräche gleichzeitig geführt werden, während sich die anderen über Bahnverspätungen und Umstiegsalternativen echauffieren. Kommt hinzu, der Deutsche neigt gerade im Zug dazu, ausgelassen über alles zu nörgeln und zu schimpfen.
Als ich einmal im ICE laut vernehmen ließ, ich führe aber gern mit der Bahn und wäre gestern pünktlich und entspannt überall angekommen, da verstummten alle Stimmen in meinem Umkreis, als hätte ich meine Noise-Cancelling-Kopfhörer aufgesetzt. Der spinnt doch! Pünktlich und entspannt? Auf welchem Planeten lebt denn der?
Aber zurück zum Thema. Ich kann das nicht mehr. Zugegeben, ich sehe nicht sonderlich kommunikativ aus. Aber meiner Sitznachbarin habe ich noch immer geholfen, wenn sie nicht mehr weiter wusste in der Bahn-App. Ich sah es ihren fragenden Augen an und reagierte. Aber muss ich jeden Quatsch über mich ergehen lassen, ohne dass andere einmal darüber nachdenken, wie laut sie gerade sind. Haben wir einmal darüber nachgedacht, wie hoch der Lärmpegel in unserem Alltag geworden ist? Ohhh … da will schon wieder einer neue Messungen, Grenzwerte und Verbote, schallt es mir gleich entgegen. Nein!
Ich will meine Ruhe, ab und an meine Ruhe! Es muss nicht immer ungefiltert alles auf mich einprasseln. Alternative: Ihr stellt eure Geräte zur Abwechslung einmal leiser. Ihr baut Staubsauger, die man kaum hört. Sie werden schon funktionieren, auch wenn man sie nicht hört. Und wie wäre es, wenn Motorradfahrer, die glauben, der Sound ihrer Maschine wäre unverzichtbar, sich selbst die Kopfhörer aufsetzten und den unerträglichen Lärm dort abspielten, zu ihrem alleinigen Ohrenschaden. Aber wenn sie wüssten, dass ich es nicht wahrnähme, dann hätte ihr Ego ja nichts davon. Schade.
Da ich den anfänglich erwähnten Essayisten aber so schätze, hier mein Vorschlag des Kompromisses. Wir Menschen bewegen uns in unsere Umwelt wieder ein bisschen leiser. Vielleicht denken wir beim nächsten Handytelefonat auch an die stillen Gesprächsteilnehmer links und rechts neben uns und verlassen gleich das Abteil. Ich will hier nicht wieder das unmögliche Wort „Achtsamkeit“ hören. Es ist so aufdringlich geworden wie ein Presslufthammer.
Dafür nehme ich meine Noise-Cancelling-Kopfhörer wieder ab, wenn mir Menschen am Bahnsteig gegenüberstehen oder ich durch die Fußgängerzone gehe. Dann sehe ich sicher wieder kommunikabler aus, freundlicher, eben wieder wie ein netter Mensch.
Ich will ja keine Verbote. Nur ein bisschen Ruhe. Geht! Weiß ich, wenn ich im „Ruheabteil“ der Deutschen Bahn fahre. Übrigens, wenn ich die Augen meines Gegenübers wegen der schwarzgetönten Brillengläser nicht sehen kann, ist das auch nicht gerade kommunikativ. Besonders nachts!
Aus dem Block …
Jon Fosse – Melancholie
Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.
Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?
Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.
Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.
Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.