Hier einige Impressionen unseres Auftritts am 09. September 2023:
Die Vorlesewerkstatt war ein Projekt der Aktion „Herford liest ein Buch“, initiiert und organisiert vom Förderverein der Stadtbibliothek Herford, Buch.Bar.
hinten: Michael Helm | Lennard Haubrich | Jan-Hendrik Lobstein | Lennert Waletzko vorne: Maximilian Holtkamp | Anabel Koop | Emily Pautz | Maliha Ahmed
Sechs Wochen hatten die Jugendlichen aller Herforder Schulen an Texten zum Erwachsenwerden in den 1980ern und den 2020ern gearbeitet, ein Coming Of Age zweier Jahrzehnte. Die Lesung war unsere Abschlussveranstaltung in der Stadtbibliothek Herford.
Hat Spaß gemacht. Danke an alle!
Die „Unschärferelation der Liebe“
vom 09. September 2023
Die Heisenbergsche Unschärferelation. Selten erlebe ich, dass ein physikalischer Satz zum Titel eines Films wird. Und ich mag diesen Film, den ich jetzt bereits zum zweiten Mal geschaut habe. „Die Unschärferelation der Liebe“ von Lars Kraume basiert auf dem Theaterstück von Simon Stephens.
Ich gehe erst in letzter Zeit wieder etwas öfter ins Kino. Das liegt ausnahmsweise einmal nicht am bösen C-Wort der letzten Jahre. Ich mag lieber das Theater, verbringe viel Zeit dort und wenig im Kinosaal. Caroline Peters und Burghart Klaußner sah ich daher vor Jahren im Düsseldorfer Schauspielhaus. Das Stück hieß Heisenberg. Das faszinierte mich mehrfach. Die beiden Bühnenakteure mag ich sehr, das wäre Grund genug gewesen. Aber Heisenberg?
Erinnerungen an mein Studium: Wenn man kleinste Teilchen genau beobachten möchte, verliert man sie aus dem Blick. Genauer, indem man sie beobachtet, verändern sie ihre Eigenschaften, die wir doch beobachten wollten. Das heißt, durch unsere Beobachtung verändern wir das, was wir beobachten möchten. Jedem kommt das als der „Beobachtereffekt“ bekannt vor. Wir können nicht als anwesender Beobachter keinen Einfluss auf die Situation nehmen. Schüler*innen und Referendar*innen spüren das übrigens sehr genau, wenn hinten in der Klasse eine Prüfungskommission sitzt, die den Unterricht beurteilen soll. Diese Menschen dort hinten sehen alles, nur keine realistische Unterrichtssituation. Nur weil sie anwesend sind.
Nun ist das auf der physikalischen Teilchenebene etwas … nun ja, infinitesimaler. Und Heisenberg hatte sicherlich keine Lehramtsprüfung im Kopf, als er seinen Satz von der Unschärferelation formulierte. Aber vielleicht dachte er schon einmal darüber nach, wie zwei Menschen einander betrachten, als wären es zwei Teilchen, die versuchten das jeweils andere näher zu bestimmen. Da wird Physik zur Philosophie. Da wird ein physikalischer Satz zum Filmtitel. Spannend.
Wie zwei Teilchen bewegen sich Alexander und Greta im Film umeinander. Zuerst will sie ihm nahe sein und bedrängt ihn. Sie redet und redet, flunkert und brilliert mit ihren Geschichten. Witziger als Caroline Peters kann man das nicht darstellen. Es lohnt sich aber, hin und wieder, den Blick von ihrer sprühenden Art zu Spielen abzuwenden und Burghart Klaußner zu beobachten. Zuerst ein Fels in der Brandung, in dem Versuch unbewegt zu sein. Als über Siebzigjähriger bringt einen eine junge Frau doch nicht mehr aus der Bahn, oder? Wie sich Alexander mehr und mehr von ihr berühren lässt: Sie ist da, sie lässt ihn nicht mehr los. Er kann nicht unbeeindruckt sein. Das spielen die beiden Akteure wunderbar aus.
Zwei sehr unterschiedliche Menschen begegnen sich, versuchen, einander nahe zu sein. Sind, wie sie sind. Sind im Augenblick schon ein Teil der Situation, die durch den anderen mitbestimmt wird. Braucht es eigentlich auf der Bühne noch mehr? Oder im Film, wo man ihren Gesichtern, ihren Augen so nahe zu kommen glaubt, wie sonst nie. Was sehen wir in diesen beiden Augenpaaren?
Das ist das faszinierende an dem Film. Ich würde ihn noch einmal schauen und wieder etwas ganz anderes betrachten. Wir können nicht unbeeinflusst schauen, vor allem nicht, wenn Burghart Klaußner und Caroline Peters uns, gleich einem physikalischen Teilchen, aus der Bahn werfen.
Lärm, Lärm, Lärm
vom 05. September 2023
Ein von mir sehr geschätzter Autor und Essayist mahnte einmal vor den Noise-Cancelling-Kopfhörern, wie sie im modernen Sprachgewirr gerne heißen. Es handelt sich um die Kopfhörer, die viele Außengeräusche ausfiltern und dem Hörer Stille und Ruhe schenken.
Meiner Formulierung entnehmen Sie, dass ich mich seiner Meinung ausnahmsweise nicht vollumfänglich anschließen möchte. Er beklagt, dass da Menschen herumlaufen, die für keine Form der Kommunikation mehr zugänglich sind. Sie stehen am Bahnhof, mitten im Gewühl, und bekommen gar nichts mehr mit. Es ist schwer, sie anzusprechen. Sie hören nicht. Sie sind abgewandt, gänzlich verinnerlicht. Sie reagieren nicht. Sie stehen nur da.
In den Worten des Autors sah ich mich selbst dort stehen. Alle Welt redet auf mich ein. Ich bekomme nichts mit. Starre und schweige. Doch, ein erschreckendes Bild. Aber!
In den letzten Jahrzehnten habe ich festgestellt, dass es mir immer schwerer fällt, das alles auszuhalten: stupide, sich widersprechende Durchsagen der Deutschen Bahn, der Lärm der permanenten Baustellen und Fahrzeuge aller Art, das permanente Gequassel der Menschen um mich herum. Lärm, Lärm, Lärm. Akustische Reizüberflutung überall.
Früher wohnten wir in einem kleinen Ort ziemlich ruhig. Heute arbeitet das Metallwerk in der Nähe fast vierundzwanzigstündig, der Steinbruch wurde erweitert, die Bundesstraße ist wegen des erheblich gewachsenen Autoverkehrs bis tief in die Nacht permanent hörbar und ihr unterschwelliges Rauschen ein andauernder Reiz. Und wenn dann endlich Ruhe einkehrt, stört fast nächtlich ein Raser unseren Schlaf, der um Punkt Elf den Motor zur Vergrößerung seines Egos aufheulen lässt und seine immer zu uns wiederkehrenden Runden zieht. Ich schweige hier von Laubbläsern, Motorsägen und anderen hübschen Geräten, von denen ich mir habe sagen lassen, dass viele von ihnen längst viel leiser produziert werden könnten, dass sich aber nur ihre lärmenden Geschwister gut verkaufen ließen. Was gut ist, muss brummen!
Ich konnte irgendwann nicht mehr. Unterwegs im Zug will ich hin und wieder ein wenig Ruhe haben oder noch etwas vorbereiten für den nächsten anstrengenden Termin. Ich gebe zu, schlecht abschalten zu können, wenn neben mir zwei geschäftliche Handygespräche gleichzeitig geführt werden, während sich die anderen über Bahnverspätungen und Umstiegsalternativen echauffieren. Kommt hinzu, der Deutsche neigt gerade im Zug dazu, ausgelassen über alles zu nörgeln und zu schimpfen.
Als ich einmal im ICE laut vernehmen ließ, ich führe aber gern mit der Bahn und wäre gestern pünktlich und entspannt überall angekommen, da verstummten alle Stimmen in meinem Umkreis, als hätte ich meine Noise-Cancelling-Kopfhörer aufgesetzt. Der spinnt doch! Pünktlich und entspannt? Auf welchem Planeten lebt denn der?
Aber zurück zum Thema. Ich kann das nicht mehr. Zugegeben, ich sehe nicht sonderlich kommunikativ aus. Aber meiner Sitznachbarin habe ich noch immer geholfen, wenn sie nicht mehr weiter wusste in der Bahn-App. Ich sah es ihren fragenden Augen an und reagierte. Aber muss ich jeden Quatsch über mich ergehen lassen, ohne dass andere einmal darüber nachdenken, wie laut sie gerade sind. Haben wir einmal darüber nachgedacht, wie hoch der Lärmpegel in unserem Alltag geworden ist? Ohhh … da will schon wieder einer neue Messungen, Grenzwerte und Verbote, schallt es mir gleich entgegen. Nein!
Ich will meine Ruhe, ab und an meine Ruhe! Es muss nicht immer ungefiltert alles auf mich einprasseln. Alternative: Ihr stellt eure Geräte zur Abwechslung einmal leiser. Ihr baut Staubsauger, die man kaum hört. Sie werden schon funktionieren, auch wenn man sie nicht hört. Und wie wäre es, wenn Motorradfahrer, die glauben, der Sound ihrer Maschine wäre unverzichtbar, sich selbst die Kopfhörer aufsetzten und den unerträglichen Lärm dort abspielten, zu ihrem alleinigen Ohrenschaden. Aber wenn sie wüssten, dass ich es nicht wahrnähme, dann hätte ihr Ego ja nichts davon. Schade.
Da ich den anfänglich erwähnten Essayisten aber so schätze, hier mein Vorschlag des Kompromisses. Wir Menschen bewegen uns in unsere Umwelt wieder ein bisschen leiser. Vielleicht denken wir beim nächsten Handytelefonat auch an die stillen Gesprächsteilnehmer links und rechts neben uns und verlassen gleich das Abteil. Ich will hier nicht wieder das unmögliche Wort „Achtsamkeit“ hören. Es ist so aufdringlich geworden wie ein Presslufthammer.
Dafür nehme ich meine Noise-Cancelling-Kopfhörer wieder ab, wenn mir Menschen am Bahnsteig gegenüberstehen oder ich durch die Fußgängerzone gehe. Dann sehe ich sicher wieder kommunikabler aus, freundlicher, eben wieder wie ein netter Mensch.
Ich will ja keine Verbote. Nur ein bisschen Ruhe. Geht! Weiß ich, wenn ich im „Ruheabteil“ der Deutschen Bahn fahre. Übrigens, wenn ich die Augen meines Gegenübers wegen der schwarzgetönten Brillengläser nicht sehen kann, ist das auch nicht gerade kommunikativ. Besonders nachts!
Eine tolles Team
vom 03. September 2023
Schüler*innen der Herforder Gymnasien und der Gesamtschule finden sich in einem Projekt zusammen. Sie treffen sich wöchentlich in Herford im Frieda und lesen gemeinsam vor. Jugendliche der 9. und 10. Klassen. Klingt gut, oder?
Da wird mit der Stimme gearbeitet, überlegt, wie eine Rolle, eine Erzählpassage durch die eigene Stimme Leben bekommt. Wie man mit dem Partner, der Partnerin interagiert und dem Text einen passenden Ausdruck gibt. Und das auch noch mit Spaß an der Sache.
Kommenden Samstag (09.09.23, Infos) tritt das Team in der Stadtbibliothek Herford um 18 Uhr gemeinsam an. Sie spielen sozusagen ihr Finale bei einer Abschlusslesung. Im Rahmen der Aktion „Herford liest ein Buch“ lesen sie prägende Texte der 1980er und stellen sie solchen der 2020er gegenüber.
Benedict Wells Roman ist ein Coming of Age der 1980er. Aber wie ist es, heute Erwachsen zu werden? Das Publikum wird eingeladen, in die Welten von damals und heute einzutauchen. Da gibt es manche Überraschung und Neuentdeckung. Und ich finde, da tritt ein tolles Team an.
Ein gemeinsames Bild
vom 31. August 2023
„Wir sind alle winzige Punkte und zusammen ergeben wir ein Bild.“
Dieses Zitat von Benedict Wells war mir beim Lesen sicher aufgefallen, aber ich hatte es vergessen. Es ist ja immer so eine Sache mit der Vergesslichkeit. Dafür gibt es dann Menschen, die uns erinnern. Im Programm zu „Herford liest ein Buch“ fand ich dieses Zitat dann dem Projekt meiner Schüler*innen-Vorlesewerkstatt vorangestellt. Ich war beeindruckt, wie schön es passt.
Seit Wochen sprechen wir über das Erwachsenwerden in den 1980ern und den 2020ern, damals und heute. Eine bunte Collage entsteht da, kleine Bilder, die sich zu einem Ganzen zu fügen beginnen. Jugend besteht ja nie nur aus einem stimmigen Bild. Interessant wird der Vergleich an den Stellen, an denen wir Gemeinsames entdecken, merken, dass manche Probleme sehr ähnlich sind. Anderes ist völlig verschieden.
Ich bin sehr gespannt auf die gemeinsame Lesung am 09.09.23 (18 Uhr) in der Stadtbibliothek. Wir werden auch dort alle winzige Punkte sein, die zusammen ein Bild ergeben werden.
Engel der Autobahn
vom 27. August 2023
„Ich drehe schon seit Stunden Hier so meine Runden (…) Ich finde keinen Parkplatz Ich komm‘ zu spät zu dir, mein Schatz“
Das schrieb schon Herbert Grönemeyer in seinem Lied „Mambo“. Ich weiß nicht, ob Grönemeyer in den 80ern danach Drohbriefe von Autojunkies bekam oder zur Anhörung vor den Automobilgerichtshof bestellt wurde, aber ich ahnte damals schon nichts Gutes. Die Parkplatzsuche gestaltete sich in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Bochum schon nicht einfach und hat sich seither verschlechtert.
„Es trommeln die Motoren. Es dröhnt in meinen Ohren“
Stimmt immer noch, auch wenn die Motoren eigentlich leiser geworden sind. Vielleicht sind es einfach mehr oder meine Ohren sind empfindlicher geworden.
Neulich, stand ich auf der A2. Die Motoren waren verstummt. Nur das Rauschen der Gegenfahrbahn war zu hören. Vollsperrung. In meinem Fahrzeug war es so ruhig geworden, dass ich aus Langeweile das Radio einschaltete. Da gab es eine Gesprächsrunde über die richtigen Methoden des Grasschnitts im heimischen Garten und etliche Zuhörer*innen, die anriefen, weil sie dazu etwas zu sagen hatten. Ein anderer Sender versprach die nächste welterschütternde Krise. Nichts sagte mir die Musik auf allen Sendern, die ich durchzappte. Also Radio aus. Mein Fahrzeug ist alt und daher hat es keine Möglichkeit, mir Musik auf andere Weise wiederzugeben. Ich kam mir jetzt genauso alt vor wie das Radiogerät. Alt und weiß.
Es war eng. Es war warm. Die Beine wussten nicht wohin und meine Waden fingen an, im eigenen Rhythmus rastlos zu zittern. Ich zählte die Fahrzeuge vor und hinter mir, die ich gerade noch erkennen konnte, immer und immer wieder. Zählen beruhigt mich. Es müssen ja nicht gleich Schafe sein.
Wäre ich bloß mit meinem ICE gefahren, dachte ich. Ich hätte mir die Beine vertreten und mit meinen Sitznachbarn über die aberwitzigen Bahndurchsagen diskutieren können. Hält der Zug nun in Bielfeld, fährt er mit einstündiger Verspätung weiter nach Köln, dreht er um und fährt zurück nach Berlin oder entfällt der Halt in Bielefeld ganz. Wenn der Zug ausfällt, fällt er dann auf Gleis 2 oder Gleis 4 aus? Muss man doch wissen. Wir hätten uns jedenfalls lachend gegenseitig am Galgen des Humors aufgeknüpft. Immer noch besser, als vereinsamt in meiner Blechkabine auf der Autobahn an Langeweile einzugehen.
Wie ich nach Hause gekommen bin? Ich habe den Wagen auf der A2 stehengelassen, habe die Kennzeichen entfernt und entsorgt und bin zum nächsten Bahnhof gelaufen. Der Zug fuhr, aber zurück nach Berlin. Eine Bahnhofsbank gewährte mir die nötige Nachtruhe in der Hauptstadt. Im Traum erschien mir ein Engel. Er nannte sich Verkehrsminister und sprach vom Himmelreich auf Straßen und Schienen.
Schweißgebadet erwache ich zu Hause im Bett. Wie ich nach Hause gekommen war? Ich weiß es nicht zu erzählen. Ich bin angekommen, wahrscheinlich dank eines Schutzengels der Deutschen Autobahnen, bewehrt mit Schild und Barke.
Warum trinke ich Tee?
vom 24. August 2023
Banaler geht´s nicht mehr, oder?
Vor Jahren habe ich mir eine andere banale Frage gestellt. Warum trinke ich überhaupt täglich meinen Kaffee? Ich wunderte mich selbst über die Frage, zwang mich aber zu einer Antwort. Ich hatte keine, die mich überzeugt hätte. Koffein? Wirkt nicht so richtig bei mir. Ich kann abends Kaffee trinken und gut danach schlafen. Der Geschmack? Ich finde ihn sogar ekelig. Das war mir vorher nie aufgefallen. Warum eigentlich nicht? Gewohnheit? Eine erhellende Antwort. Irgendwann schaut man sich etwas ab und behält es bei, weil es andere auch tun.
Die Antwort hatte Konsequenzen. Ich versuchte es mit Tee. Schwarzen Tee kannte ich aus meiner Kindheit. Wenn ich krank war, trank ich Kamillenblütentee oder dieses tief bittere, schwarze Gesöff, auf dem ein schimmernder Film schon meinen Ekel erregte. Der nächste Gedanke: Zwieback. Dann: Erbrechen. Keine hilfreiche Assoziationskette.
Durch Zufall stieß mich eine Händlerin auf grünen Tee. Weil ich mit dieser Teefrau so gern über die verschiedenen Sorten, die Gewinnung, die Herkunftsländer und die Zubereitung sprach, bin ich bei meinem täglichen, japanischen Sencha hängen geblieben. Eine bewusste Entscheidung. Vielleicht. Oder einfach das gute Gefühl, gerne mit einem Menschen zu sprechen, der sich an dieselbe Leidenschaft gewöhnt hat. Die Teefrau will mir in ihrem kleinen Laden nicht aus dem Kopf. Sie ist wie eine angenehme Erinnerung, hinterlässt ein gutes Gefühl in mir.
Grüner Tee ist fantastisch. Er schmeckt und belebt mich. Wohl bekomm´s.
Jason Lutes – Berlin
vom 22. August 2023
Manche Bücher brauchen ihr Zeit. Keine neue Erkenntnis. „Berlin“ von Jason Lutes steht schon zu lange in meiner Graphic-Novel-Ecke, sodass ich mich an den Anblick des ungelesenen Mammuts schon zu gewöhnen begann. Comics sind Heftchen? Falsch. Dieser Comic ist ein Mammut von einem Buch. Ein Opus Magnum, wie ein Kritiker schrieb.
Begonnen hat es der amerikanische Zeichner Jason Lutes Mitte der 1990er. Eine Trilogie ist es geworden, die in meinem Buch in vereinter Form in Deutsch herausgegeben vorliegt. Über zwanzig Jahre hat er an allen drei Bänden gezeichnet. Lutes´ Geschichte beginnt im Berlin 1928 und endet 1933.
Ist es da ein Wunder, dass ich das dicke Mammut gerade jetzt aus dem Regal ziehe? Wieder einmal in Berlin gewesen, gerade vorher noch in Weimar. Aber gerade dann fällt mein Blick auf die eine Stelle im Regal? Das Schicksal sollte ich vielleicht nicht gleich bemühen, eher die Irrungen und Wirrungen eines Gehirns, das den geraden Weg verabscheut.
Die Weimarer Republik rückte nicht nur in Weimar immer wieder in meinen Fokus der letzten Zeit. Der Untergang unserer ersten Demokratie in Deutschland. Nicht an ihren Kinderkrankheiten eingegangen, von den Nationalsozialisten zerstört, habe ich gerade noch in der Ausstellung zur Weimarer Republik gehört und gelesen. Im Anbetracht der Tatsache, dass sich so viele Menschen wieder einen scheinbar starken, diktatorischen aber doch menschenverachtenden Staat zu wünschen scheinen, ist der Blick auf die letzten Jahre dieser Republik verständlich.
Ich bin kein Comic-Kenner. Die Zeichnungen Lutes sollen in einer europäischen Tradition stehen. Schwarz-weiß gezeichnet, in ruhigen Bildern mit klaren Konturen. Nicht actionlastig. Sie scheinen mir eher eine Stimmung wiederzugeben, als eine dynamische Handlungsabfolge. Es ist die Stimmung der späten 1920er, die mich interessiert. Und der ungewöhnliche historische Blick eines amerikanischen Zeichners auf diese vergangene, bedeutsame Zeit im Berlin, das ich im Moment so gegenwärtig vor Augen habe. Hier verwirren sich auf einmal so viele Motivationsfäden.
Kommt hinzu, dass mir Kurt Severing, die Figur gleich zu Beginn, so vertraut vorkommt. Fiebrig schlage ich nach: Kann doch nur Kurt Tucholsky gemeint sein, der gleich einem gewissen Joachim Ringelnatz in die Arme läuft. Na wenn ich da nicht gleich weiterlese, … sorry, schaue …
Ende einer Reise
vom 20. August 2023
Weimar – Berlin – Rheinsberg – Potsdam.
In Weimar fühle ich mich immer wie zu Hause. Weimar ist für mich kulturelle Erholung. Spaziergänge an der Ilm, Anregungen in den Geschichts- und Dichtermuseen, Pausen in den Kaffees. Berlin ist aufregend, hinter jeder Straßenkreuzung eine neue Erfahrung, ein neuer Gedanke, ein neues Bild. Theater, Kunstmuseen, Straßenevents. Menschen. Menschen. Menschen. Rheinsberg war eine neue Erfahrung. Abgeschieden, erholsam, aber etwas vom Schuss. Ein Tucholsky-Museum gehört nach Berlin. Der Mann hat mehr geschrieben, als Rheinsberg. Tucholsky hat sich eingemischt in die Angelegenheiten der jungen deutschen Republik, in die Berliner Angelegenheiten. Das geht uns gerade jetzt etwas an. Und Potsdam lebt von seinen Schlössern, auf die ich gern verzichten kann. Ja, ja, Architektur und Kunstgeschichte. Macht mal. Potsdam war für mich Filmabende und Filmmuseum, das Haus der Wannseekonferenz und das Holländische Viertel. Man ist zügig wieder im Theater in Berlin. Ich liebe Städte, aus denen man auch schnell einmal weg, das heißt ganz woanders ist. Nichts ist so schön, als sich wieder etwas Neues anzuschauen oder etwas Altes neu zu entdecken.
Potsdam – Ein Reiserückblick
vom 19. August 2023
Kino. Kino. Kino.
An drei Abenden ins Kino. Das haben wir lange nicht mehr gemacht. Thalia, das ist in Potsdam keine Muse, das ist auch keine Bücherkette, das ist in Babelsberg ein traditionsreiches Kino mit angeschlossener Wohlfühlbar. Drei Kinoabende: „Indiana Jones“ erinnerte mich an alte Hollywoodstreifen und solch ein Abend gehört irgendwie in einen Sommerurlaub. „Die Unschärferelation der Liebe“ mit Caroline Peters und Burghart Klaussner ist ein wunderbarer Film, dessen Geschichte wir in gleicher Besetzung schon auf den Bühnenbrettern in Düsseldorf gesehen hatten. Sehenswert. Und „Alma & Oskar“, über die tragische Liebesgeschichte Alma Mahlers mit Oskar Kokoschka, ließ sich auch gut anschauen.
Ja, und dann gibt’s natürlich den ganzen Tratsch über die Filmstadt Babelsberg. Den erfährt man selbstverständlich im Filmmuseum sehr schön aufbereitet. Von Fritz Lang bis Tarantino. Da fehlt einem nichts. Die Geschichte der Filmstudios vor und im Nationalsozialismus, in der DDR und bis heute.
Da habe ich mir vorgenommen, das alte Kino nicht länger so sträflich zu vernachlässigen, wie in den vergangenen Jahren.