… Dafür sind gute Buchhandlungen da, nicht wahr? … Sie geben mir dort in die Hände, was passt, … zu dem passt, was ich just gelesen habe … das weiß mein Buchhändler selbstverständlich, oder? … Er weiß es wirklich …
… er kennt meine Vorliebe für die alte mesopotamische Zivilisation … für Gilgamesch und Enkidu … also drückte er mit Anna In in die Hand. Ich kenne Olga Tokarczuk, die polnische Nobelpreisträgerin, obwohl ich bisher nichts von ihr gelesen habe. Anna In ist das Buch von ihr, das in aktueller Übersetzung ins Deutsche vorliegt … Ich bleibe stutzig! Bis er mich auf den Dreher im Titel aufmerksam macht. Anna In – Inanna. Da fällt der Groschen … Sie ist die sumerische Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit, des Mondes und auch des Krieges. Die Göttin steigt in die Unterwelt, um dort ihre Schwester Ereschkigal zu besuchen …
… Die Unterweltmythen erzählen normalerweise davon, dass niemand zurückkehrt, der ins Reich der Toten gelangt ist. Das droht auch Anna In / Inanna … Der Klappentext bringt Klarheit. „Eine Reise zu den Katakomben der Welt“. Erschienen, wie alle Werke der polnischen Schriftstellerin, im Kampa-Verlag. Die Autorin nimmt sich eines weiteren bedeutenden Mythos´ Uruks neben Gilgamesch an, des Inanna-Mythos´.
… Mythen erzählen von den uralten Fragen der Menschheit, nach Sterblichkeit und Unsterblichkeit, nach dem Sinn unserer Existenz … das bewegte die Sumerer damals, das bewegt die Menschen noch heute …
… Tokarczuk nimmt sich des uralten Stoffes an und erzählt den Mythos auf faszinierende Weise neu … ich habe erst die ersten Kapitel gelesen, aber das hat mich hineingezogen … auch Gilgamesch reiste in die Unterwelt zu Ereschkigal … aber hier bei Tokarczuks Inanna wird ein Mythos auf einzigartige Weise neu gestaltet. Wirkmächtige, poetische Bilder entstehen beim Lesen. Dunkle Gänge und modernde Hallen, vermoost und aus rostigem Metall … über der Erde lesen die Menschen Zeitung, sie haben Strom und fahren in futuristischen Fahrstühlen … die Gärten hängen wie Weltwunder vom Himmel … dennoch geht der Reiz des Alten nicht verloren … die Zeiten wirken wie verflochten ineinander … die Sprache schafft eine zeitlose Welt … das macht viel Lust auf mehr … ich bin sehr gespannt wie es weitergeht …
mh
Immer wieder gefragt
vom 18. Mai 2022
Kann man von der Kunst leben? Ja, weil sie wie der Sauerstoff in der Luft ist.
Nein, weil noch niemand für den Sauerstoff zum Atmen bezahlt hat. Er ist einfach da.
Kaspars Gedankengang …
vom 24. März 2022
… Nur selten zieht er sich Anzug und Krawatte an, doch ab und an tut er es. Dass ihm ausgerechnet in diesem Moment, da er in eine andere Person geschlüpft zu sein scheint, eine merkwürdige Begegnung widerfährt, ist vielleicht noch nicht ungewöhnlich. Dass ihn die Dame in der Bar mit jemandem verwechselt, gut. Dass sie ihn jedoch unangenehm mit jemandem konfrontiert, der er sein soll, aber keinesfalls sein kann (sein möchte), ist dann schon bedrückend. Könnte ich dieser Andere wirklich gewesen sein, fragt er sich doch …
… Wie so oft in seinen Werken spielt Haruki Murakami mit den Welten, von denen man oftmals nicht weiß, welche von ihnen die fiktive, traumhafte und welche die scheinbar wirkliche, reale Welt ist … Der Erzähler in der Titelgeschichte Erste Person Singular kann sich seiner Welt, seinem Ich nicht mehr sicher sein. Er tritt in eine veränderte Welt. Wie das in Murakamis Werken passiert, ist oft wunderbar … In dieser Geschichte machen Kleider sprichwörtlich Leute, also andere Menschen. Wie genau Murakami das beobachtet und erzählt, ist alles andere als allbekannt. Kleine erzählerische Finessen rücken das Alltägliche plötzlich aus ihrem gewohnten Zusammenhang. Das Gewohnte wird aus seiner gewöhnlichen Betrachtung gerissen und zum Geheimnis … Die Welt verändert sich vor unseren Augen … In dieser anderen Welt müssen die Figuren leben, ob sie traum- oder gar albtraumhaft sein mag …
… Die Ungewissheit im Umgang mit dem Ich-Konstrukt steckt auch in den anderen Erzählungen des Erzählbandes des japanischen Bestsellerautors, der seit Jahren immer wieder für den Nobelpreis gehandelt wird. Treffend ist der Titel Erste Person Singular daher nicht allein für diese eine Erzählung. Er bildet den Rahmen für alle Geschichten des Bandes …
… In einer anderen sehr gelungenen Erzählung des Buches, Charlie Parker Plays Bossa Nova, macht die berühmte, aber früh verstorbene Jazzlegende eine Platte, die sie gar nicht mehr hätte machen können … Was aus einer so kleinen, netten Fiktion in der Geschichte erwächst, ist wunderbar unglaublich; eben ein echter Murakami … das Thema Erinnerung, Umgang mit erinnerten Geschichten, letztlich mit der Zeit, ist ein verbindendes Element dieser Erzählungen …
… Leider sind nicht alle Geschichten in diesem Band von gleicher Überzeugungskraft für mich. Manche hatte ich nach dem Lesen schon beinahe wieder vergessen. Aber da Erzählungen, wie die beiden erwähnten, kleine Kunstwerke für sich sind, ist Erste Person Singular eine reizvolle Lektüre, auch wenn das Buch nicht der Höhepunkt im Oeuvre des Autors sein wird.
Kaspar Hauser
Haruki Murakami – Erste Person Singular Ins Deutsche übersetzt von Ursula Gräfe Dumont, 2021 ISBN 978-3-8321-8157-4
Jemand besucht etwas …
vom 17. März 2022
Es gibt eine Menge Kommentare zur aktuellen Situation. Ich erinnerte mich in den letzten Tagen immer an einen Text von Kurt Tucholsky, „Jemand besucht etwas mit seinem Kind“. Der Text erschien am 10. März 1925 in „Die Weltbühne“ unter dem Pseudonym Kaspar Hauser.
Kaspars Gedankengang …
vom 01. März 2022
… Rufus Scott, ein junger schwarzer Jazzmusiker aus Harlem, nimmt sich in New York das Leben … so beginnt der Roman Ein anderes Land von James Baldwin, der im Amerika der späten 50er spielt … ein verstörendes Buch, noch heute, obwohl 1962 erschienen und schon damals wohl ein Bestseller … ein Buch über das Scheitern der Liebe an den Grenzen der Ungleichheit zwischen Menschen …
… Rufus verliebt sich in Leona, eine weiße Frau. Eine Liebe, die nicht sein darf? … Eric findet seine Liebe bei Yves, einem jungen Franzosen … Cass hadert mit der Rolle der Frau an der Seite ihres Mannes – der endlich als Schriftsteller erfolgreich wird – und ihrer beiden Kinder … Vivaldo verliebt sich in Ida, Rufus´ jüngere Schwester …
… nach Rufus´ Selbstmord suchen die Schwester und die Freunde nach tiefergehenden Antworten, indem sie das eigene Leben in Frage stellen. Nichts ist selbstverständlich, die Freundschaften nicht, die Liebe nicht, das Leben nicht, auch die Gewissheiten der liberalen weißen Bohemiens bröckeln …
… das Buch besticht, weil es Kategorien aufbricht … die Figuren sind sich ihrer selbst nicht mehr gewiss, wissen nicht wohin sie gehören, auch wenn sie in die üblichen Schubladen gesteckt werden … sie passen eben nicht hinein … die Schublade der Sexualität, die Schublade der Hautfarbe oder der Geschlechterrolle … zwischen all diesen Einordnungen lieben sie, lavieren sie und verzweifeln sie … es sind Menschen, die in gesellschaftlich festgefahrenen Strukturen zu leben haben, aus denen sie nicht ausbrechen können … der Roman wirft die Frage auf, ob der gute Wille der Einzelnen ausreichen kann, die strukturellen Gräben zu beseitigen …
… es sind Fragen, die uns heute bewegen …
… dtv veröffentlicht die Bücher James Baldwins in neuen Übersetzungen. Sie geben einem Autor wieder eine Stimme, der sich für ein Leben jenseits der Kategorien einsetzt, der sich für Gleichberechtigung ungeachtet der Hautfarbe, der sozialen Herkunft, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung einsetzt. Eine wichtige Stimme.
James Baldwin – Ein anderes Land Roman, übersetzt von Miriam Mandelkow dtv, 2021, 575 S. ISBN 978-3-423-28268-0
Kaspar Hauser
Literarische Nachklänge – Ein Hörbuch
vom 03. Februar 2022
Es ist gerade erschienen: Das Hörbuch, das ich zusammen mit Martina Leon eingesprochen habe.
Literarische Nachklänge (Hörbuch, 2021) Eine Audioreise durch die Russlanddeutsche Literatur Mit Texten aus dem Lesebuch „Russlanddeutsche Literatur“ Hg. Wendelin Mangold & LmDR e.V. (1999) gelesen von Martina Leon & Michael Helm
Dort findet sich auch der Link zur Präsentation des Hörbuchs auf YouTube.
Viel Spaß beim Lauschen, Michael Helm
Kaspars Gedankengang…
vom 02. Februar 2022
… endlich mal wieder in der Abteilung skurrile Lyrik und abseitiger Humor unterwegs: Die Galgenlieder von Christian Morgenstern gelesen. Wieder gelesen. Laut gelesen. Wunderbar. Stilistisch brillanter Irrsinn, wie ich ihn mag. Von Galgenbruders Lied an Sophie die Henkermaid über den Versuch einer Einleitung des Dr. phil. lic. Jeremias Müller über Nein!, Das Gebet bis hin zu Das große Lalula macht mir das wirklich irrsinnigen Spaß … die Verse erspielen … den großen C-Unsinn einmal beiseite lassen … einfach Freude daran haben, Sprache auf den Kopf zu stellen … herrlich!
Und zum Schluss vor dem Einschlafen: Fisches Nachtgesang
Ein duschgeknallt, vergnügter Kaspar Hauser
Kaspars Gedankengang XI
vom 20. Januar 2022
„Bei aller Schläue hatten sie das Geheimnis, was ein anderer dachte, noch nicht gelüftet. Vielleicht traf das weniger zu, wenn sie einen in der Hand hatten. Man wusste nicht, was im Liebesministerium geschah, aber vermuten konnte man es: Folter, Drogen, empfindliche Apparate, die die Nervenreaktionen registrierten, allmähliche Zermürbung durch Schlafentzug, Einsamkeit und unablässig Verhöre. Tatsachen jedenfalls ließen sich nicht verheimlichen. Die ließen sich durch Fragen erhalten und durch Folter herauspressen. Doch wenn es nicht das Ziel war, am Leben, sondern ein Mensch zu bleiben, was änderte das letztlich groß? Die Gefühle konnten sie nicht ändern, das konnte man ja nicht einmal selbst, auch wenn man es wollte. Was man getan, gesagt oder gedacht hatte, das konnten sie alles bis ins Kleinste aufdecken, das Innerste aber, dessen Funktionsweise sogar einem selbst ein Rätsel war, das blieb unangreifbar.“
George Orwell, 1984, Insel, 2021, übersetzt von Eike Schönfeld, S. 223
… ich hänge noch immer in der Lektüre von 1984 fest … kann man so sagen … immer wieder suche ich mir einzelne Szenen heraus, über die ich eine Nacht lang nachgrüble … hier eine aus der Übersetzung von Eike Schönfeld, die in der bisherigen Betrachtung vielleicht etwas kurz gekommen ist …
… Was mich an diesem Auszug so schockiert, ist die Trostlosigkeit der wiederholten Lektüre … warum das? … Ich mochte Orwell beim ersten Lesen damals am Ende der Passage so gerne recht geben, aber er zeigt am Ende seines Buches, dass auch das möglich ist: Nichts bleibt in 1984 unangreifbar, selbst die Liebe nicht, selbst das „Menschbleiben“ nicht. Menschen sind so verdammt beeinflussbar. Es muss nicht einmal durch Folter geschehen, möchte ich 2021 hinzufügen …
… in einer zweiten Szene schildert Orwell, wie während einer Propagandaveranstaltung, während einer Rede des Funktionärs, während eines einzigen Satzes sich die Tatsachen zu ändern scheinen, auf denen die Propaganda fußt: Ozeanien liegt plötzlich nicht mehr mit Eurasien im Krieg, sondern von einer Sekunde auf die andere wird der Krieg mit der anderen Partei, dem ehemaligen Verbündeten Ostasien propagiert. Mit Eurasien sei man doch schon ewig verbündet! … Alle Fakten werden in ihr Gegenteil verkehrt … die Maschinerie der Vergangenheitsfälschung wird wieder angeworfen … die Vergangenheit wieder einmal getilgt, ersetzt … die Lüge durch eine weitere Lüge ausgetauscht …
… Beeindruckend allerdings, wie schnell das geht … wie innerhalb eines Moments die Meinung der Menschen manipulierbar ist … Während der Rede des Funktionärs nehmen es die Menschenmassen hin. Der Redner beendet den Satz im Lichte der neuen Fakten, der neuen Wahrheiten … Wir liegen im Krieg mit Ostasien! … war nie anders … wer anderes behauptet, ist Staatsfeind! … wer anderes denkt … Gedankenverbrecher! … Fakten werden zu Lügen … Lügen zur Wahrheit … und obwohl alles noch vor einer Sekunde das Gegenteil zu sein schien … es wird von den Menschen, die dem Redner euphorisch zujubeln, geglaubt … alte Plakate werden von den Wänden gerissen … Fake News! … nieder mit der Feindpropaganda! … es lebe die Partei! … es lebe der große Bruder! … Wahrheit mit einer Halbwertszeit von Sekunden …
… kommt uns irgendwie bekannt vor?
Kaspar Hauser
Kaspars Gedankengang X
vom 05. Januar 2022
… nachdem ich 1984 von George Orwell in zwei Übersetzungen und noch einmal im Original gelesen habe, bleibt darüber nachzudenken, welche ich gelungener finde … keine Antwort möglich und ich schiebe diesen Beitrag schon Tage vor mir her …
… Die Übertragung von Frank Heibert ist keine klassische Übersetzung. Im Nachwort begründet er einige Finessen, die er vorgenommen hat. Die auffälligste habe ich schon genannt, er überträgt Orwells Text ins Präsens. Orwell schreibt nicht in einem experimentellen Stil. Die Art wie er die Geschichte um Winston Smith erzählt, dürfte in seiner Zeit (1948) nicht ungewöhnlich gewesen sein. Das Sujet war aufrüttelnd. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, noch während des Stalinismus und nach dem Nationalsozialismus, eine derartige Dystopie zu schreiben, muss mindestens einer äußerst pessimistischen Weltsicht und Warnung gleichgekommen sein. Wie viele seiner Zeitgenossen traute er dem Frieden nicht … und ob es im kalten Krieg einen wirklichen Frieden zwischen den Großmächten gab, kann bis heute diskutiert werden …
… In 1984 gibt es diesen äußeren Frieden zwischen den drei fiktiven Großmächten nicht und Orwell schildert, wie sich das innere Gesellschaftsgefüge in einem totalitären Staat mit Krieg, Angst, Hass und Hysterie stabilisieren lässt … dabei ist bezeichnend, dass niemand so genau weiß, ob der Krieg überhaupt ein heißer ist oder ob es sich um einen kalten Propagandakrieg handelt. Winston hat seine Zweifel …
Inhaltlich trug das Buch damals Aufregungspotential in sich … unsere heutigen Schwerpunkte sind andere … für die Leser*innen damals dürfte die Bedrohung in Orwells Dystopie konkreter gewesen sein … für uns scheint das Meiste so nicht eingetroffen … wir schauen vielmehr bange auf die totalitären Mechanismen, die mit einer noch verfeinerteren gegenwärtigen Technik möglich geworden sind, an die George Orwell noch nicht einmal gedacht hat. Er behält recht, weil das totalitäre Prinzip, das er schildert, dasselbe geblieben ist … mit welchen technischen Finessen es realisiert wird, ist zweitrangig …
… Um das provokante Potential des Textes für heutige Leser*innen zu erhalten, überträgt es Heibert in die Gegenwart … von dieser wird sich erst im Schlusskapitel herausstellen – nämlich wenn es um die Auseinandersetzung mit Neusprech gehen wird – dass das alles längst in der Vergangenheit liegen muss. Der Roman wir dadurch unmittelbarer für uns …
Die Übertragung Heiberts verändert den Originaltext bis in die Satzstruktur, die sich im Deutschen und Englischen natürlich unterscheiden. Bei Heiberts Übertragung hatte ich oft den Eindruck, dass diese dem im Buch propagierten Neusprech näher kommt, als in Orwells Roman. Zum Beispiel scheinen mir viele Sätze kürzer und prägnanter, als in der Übersetzung von Eike Schönfeld und selbst im Original. Das fand ich gelungen …
… Diskutieren kann man, wie bei vielen anderen Beispielen auch (z.B. Moby Dick), wie ein Übersetzer mit umgangssprachlichen Sequenzen umgeht. Heibert findet für die altenglische Sprache der „Proleten“ eine stark ans Ruhrpott-Deutsch angelehnte Ausdrucksweise … „Proleten“ sprechen in 1984 kein Neusprech, also reden sie im zeitgenössischen Englisch Orwells, also Altsprech aus der Zukunftsperspektive. Dies allerdings stark mit Slang. Solche Übertragungen zwischen verschiedenen Sprachen und mundartlichen Ausprägungen können maximal eine Näherung sein …
… die andere Übersetzung von Eike Schönfeld ist eine gelungene „klassische“ Übersetzung, die das Original bis ins Detail angemessen berücksichtigt. Sie kommt Orwell näher. Die Übertragung von Frank Heibert klingt frischer – manchmal wirkt das auf mich etwas verfremdend … letztere ist auf keinen Fall etwas für Erstleser*innen des Romans. Kennt man 1984 aber bereits, ist sie eine spannende Ergänzung in der Auseinandersetzung mit Orwells Stoff in unseren Tagen. Bei der Übersetzung Schönfelds muss man Orwells Roman in seiner Zeit berücksichtigen, was letztlich für alle Klassiker gilt …
… besser hätte ich es im Falle der Übertragung von Frank Heibert gefunden, wenn der Verlag dies deutlich als Übertragung nach George Orwell auf dem Cover gekennzeichnet hätte …
… beide Herangehensweisen haben ihr Für und Wieder. Beide waren gewinnbringend zu lesen. Wer Englisch beherrscht, ist sowieso bei George Orwell am besten aufgehoben … auch wenn ich denke, dass die Kunst guter Übersetzer viel zu wenig Würdigung findet … im Falle dieser beiden Übersetzer sollte man es tun …
George Orwell – 1984 Übersetzt von Frank Heibert S. Fischer, 2021, 432 S. ISBN 9783103900095
George Orwell – 1984 Übersetzt von Eike Schönfeld Insel Verlag, 2021, 382 S. ISBN 9783458178767
Kaspar Hauser
Kaspars Gedankengang IX
vom 15. Dezember 2021
… „Im EngSoz (Englischer Sozialismus) herrscht eine einzige Partei über das Land und die Großmacht Ozeanien. Ihr Führer ist der Große Bruder“ (s. voriger Gedankengang) … Länger darüber nachgedacht, denn eigentlich ist der Große Bruder im Roman 1984 gar keine Person … zumindest wird in Frage gestellt, dass es diesen Großen Bruder überhaupt gibt … oder ob es sich um eine große Projektionsfläche handelt? …
… interessant, weil zur Zeit, als Orwell 1948 den Roman schrieb, seine zeitliche Nähe zu Diktaturen, die einer Art Führerkult anhingen, noch geringer war: der Führerkult in Deutschland bei den Nationalsozialisten, aber auch die Stalinfixierung in der Sowjetunion. Auch wenn es heute wieder Tendenzen gibt, bei denen eine „starke Figur“ an die Spitze autoritärer Strukturen gesetzt werden mag, so erscheint mir heute die Gefahr von diktatorischen Systemen (oder deren Vorläufern) vermehrt darin zu bestehen, dass sie an sich und in sich die totalitäre Unterdrückung darstellen und ohne eine Führer-Person auszukommen scheinen, ohne den großen Diktator. Heutige Überwachung ist systemisch zu denken. Wir unterwerfen uns einem „Netz“ technischer Möglichkeiten, auch im Anbetracht der Gefahr einer totalitären Nutzbarkeit …
… Orwell deutet das in seinem Roman schon an … der Große Bruder ist omnipräsent (auf Plakaten und Videowänden, im Denken der Leute …), aber es muss ihn als Person nicht einmal mehr geben … Die Partei wird auch nicht durch andere Führungspersönlichkeiten repräsentiert, sondern sie ist als Partei selbst Ausdruck des diktatorischen Prinzips. Köpfe sind auswechselbar … In 1984 herrscht eine Parteidiktatur. Der Große Bruder wird zur Projektionsfläche all dessen, was die Parteidiktatur ausmacht. Er ist unfehlbar. (Unpassende Äußerungen werden im Ministerium für Wahrheit nachträglich korrigiert.) Er ist unsterblich. (Niemand weiß genau, wann er geboren wurde und wie lange er schon als Parteigründer angeblich herrscht.) … Der Große Bruder ist, was die Partei will, dass er es sei …
… Orwell deutet an, wie eine Diktatur ohne Führerkult aussehen könnte. Denn die Diktatur in 1984 kommt – konsequent weitergedacht – früher oder später auch ohne den Führerkult um den Großen Bruder aus …
.. stellt sich für uns heute die Frage, inwieweit wir systematisch manipuliert werden, indem wir uns der Datenvernetzungsmaschinerie anvertrauen. Wer manipuliert hier eigentlich wen? Ein solches System denkbarer totalitärer Prinzipien der Manipulation des Einzelnen bedürfte jedenfalls keiner Führerfigur mehr … nicht einmal mehr eine einzelne Herrscherpartei …