„Rheinsberg – Ein Bilderbuch für Verliebte“. Eine kleine Reisegeschichte. Eine kleine Liebesgeschichte. Eine kleine Sommergeschichte. Ein kleines Büchlein. Und weil es immer klein ist, könnte man denken, es sei nichts Großes. Klein heißt aber eigentlich, dass es in einer Bescheidenheit und Vergnügtheit daherkommt, die ihresgleichen sucht. Typisch Tucholsky ist der Witz mit dem der Autor gern in Worten spielt, in diesem Büchlein sogar zaubert. Das Spiel mit den Dialekten, mit kindlichen Sprachspielereien macht es so vergnüglich, so leicht.
Und doch sind da die kritischen Untertöne, wenn Tucholsky seine Figuren genau beobachtet in ihren kleinen Schwächen. Der Kontrast zwischen dem Liebespaar Gambetta, das unverheiratet unter falschem Namen in den Kurzurlaub nach Rheinsberg (nördlich von Berlin) reist und den gesellschaftlichen Konventionen, die sich im Wesen des Schlosskastellans ausdrücken, ist von feinstem ironischem Humor. Es ist die Fallhöhe zwischen den alten Konventionen des Kaiserreichs, in dem Tucholsky aufwuchs, und den neuen, liberalen Vorstellungen, die nach dem Krieg in die Weimarer Republik führen werden. Eine freie Liebe, ein freierer Umgang zwischen den Geschlechtern, das wird für mich in den Neckereien zwischen Wölfchen und Claire spielerisch skizziert.
Das Buch erschien 1912. Der umgangssprachliche, aber intelligente Ton war bis dahin unüblich in der deutschen Literatur. Er fand aber großen Anklang. Ob es daran lag, das Tucholsky in seiner Berliner „Bücherbar“ zum Literaturkauf geistige Getränke anbot? Er schrieb selbst in der Weltbühne darüber schmunzelnd:
„Die Presse brachte sich um. Die ‚Breslauer Zeitung‘ war dagegen, die ‚Vossische‘ dafür, Prag und Riga verhielten sich neutral – die Ausschnitte sind noch da – und der ‚Sankt Petersburger Herold‘ vom achtzehnten Dezember 1912 schrieb, wer einen Wilde erstehe, der bekäme Whisky Soda, und wer Ibsen kaufte, einen nordischen Korn. Das stimmte aber nicht – wir tranken selber. Und verkauften schrecklich viele ‚Rheinsbergs‘.“
(Kurt Tucholsky, Die Weltbühne, 08.12.1921, Nr. 49)
Benedict Wells – Hard Land
vom 12. August 2023
Es gibt eine Stelle im Buch, die mich an einen Essay von Kleist erinnert: „Über das Marionettentheater“.
„Sie waren alle so unterschiedlich in ihren Rollen. Ich stellte mir vor, dass das eigene Ich aus vielen Puppen bestand, aus mutigen und ängstlichen und stillen und lauten, und überall hingen die Fäden. Doch man konnte nie sehen, wer sie in der Hand hielt. Wer der innere Puppenspieler war.“
(Benedict Wells, Hard Land, Diogenes, 2021, S. 172)
Das geht Sam an seinem sechzehnten Geburtstag durch den Kopf.
Im Moment der Kindheit befinden wir uns wie in einem Zustand einer „natürlichen“, unreflektierten Anmut. Im Übergang zum Erwachsenenalter beginnen wir diesen Zustand zu reflektieren. Beginnen uns selbst zu hinterfragen. Bemerken die Puppen in uns, wie sie ihre unterschiedlichen Rollen zu spielen scheinen. Wir werden ungelenk, sind uns unser unsicher, fragen, wer wir denn nun sind:
„Und ich sagte, dass ich nicht mal wisse, welches mein Ich sei: Sam, der hier am Tisch saß und gerade diese Worte sprach. Oder das unsichtbare Wesen in meinem Kopf, das Sam dabei beobachtete und alles innerlich kommentierte. Aber was, wenn auch das falsch war? Wenn das wahre Ich eben nicht die eigenen Gedanken, Gefühle und inneren Stimmen war, sondern etwas dahinter, das man nur erahnen, aber nie ganz erwischen konnte?“
(Benedict Wells, Hard Land, Diogenes, 2021, S. 171)
Dann fällt mir das Puppenspiel ein, das ich in Berlin an der Ernst Busch-Hochschule gesehen hatte. Welch Anmut doch in diesen bewußtlosen Puppen steckt, wie sie uns im Reiz dieser Anmut faszinieren, eine Selbständigkeit zu entwickeln scheinen. Mit Kinderaugen folgen wir ihrem Spiel. Und doch werden sie von etlichen Menschenhänden bewegt. In eine eingeübte Harmonie gebracht. Ein Akt, der die Puppenspieler hinter der Puppe in deren künstlerisch erschaffenem Wesen vereint?
Rheinsberg – Ein Reiserückblick
vom 10. August 2023
Rheinsberg liegt nördlich von Berlin. Redet man über Rheinsberg, erkennt man eine bestimmte Sorte Literaturliebhaber. „Ahh! – Ein Bilderbuch für Verliebte“, sagen diese Menschen. „Wo liegt Rheinsberg?“, fragen die anderen. Tucholsky-Liebhaber kennen Rheinsberg aus seinem Romanerstling mit dem schönen Titel: „Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte.“ Und genau deshalb verschlug es mich in diese kleine Stadt, in diese sehr kleine Stadt.
Tucholsky verbrachte hier einen Kurzurlaub, am Grienericksee. Für einen längeren Aufenthalt hätte es damals wie heute wohl nicht gereicht. Aber immerhin, die Landschaft ist wundervoll, für lange Wanderungen in die Mark Brandenburg. Ach und ja, auch Theodor Fontane war hier und hat natürlich über das Rheinsberger Schloss geschrieben. Aber mit Fontane wollte ich mich nicht befassen.
Was Tucholsky über das Rheinsberger Schloss geschrieben hat, ist eben typisch Tucholsky und nicht ohne seinen satirischen Unterton zu haben. Das ist herrlich vergnüglich, macht das Schloß aber nicht schöner. Das Schloß muss eben besichtigt werden, sagte schon Tucholsky. Ich habe jedoch das Vergnügen, es mit Tucholskys spöttischen Blicken zu besichtigen.
Prächtig, prachtvoll, wunderherrlich, werden sie anderswo lesen. Das ist auch nicht gelogen. Jeder hat seine Ansichten. Ich persönlich finde es jedoch aberwitzig, dass das einzige Tucholsky-Museum in Deutschland ausgerechnet in dem Luxuskasten untergebracht ist, den er so herrlich verulkt hat. Die einen grätzen nun: „Hat er verdient.“ Ich meine: „Hat das Schloß verdient.“ Und ich schmunzle darüber.
Berlin – Ein Reiserückblick
vom 09. August 2023
Eine sehr geschätzte Kollegin hatte einen Auftritt an der Ernst Busch Hochschule für Schauspielkunst in Berlin. Das war eine besondere Gelegenheit. Modernes Puppenspiel mit großen Puppen, die von mehreren Spieler*innen geführt werden. Wir hatten ja schon einen tollen Abend in Weimar erlebt und jetzt auch noch das. Die beiden Inszenierungen, die wir gesehen haben, machten Lust auf mehr. Es ist für mich immer wieder beeindruckend, dass sich unser Blick immer gleich der Puppe zuwendet. Dass sie Eigenleben bekommt. Eine eigenständige Person zu werden scheint. Man mag die Spieler*innen dabei beobachten. Der kindliche Blick für die Puppe siegt.
Benedict Wells – Hard Land
vom 08. August 2023
Ich bin durch die Aktion in Herford – „Herford liest ein Buch“ – darauf aufmerksam geworden und lese es zur Vorbereitung für meine Projekte (Vorlesewerkstatt, Schreibwerkstatt) gerade zum zweiten Mal.
Es ist eine „Coming Of Age“-Geschichte. Der fünfzenjährige Sam erzählt von der kurzen Zeit des amerikanischen Sommers 1985. Prägende Ereignisse spielen sich in diesen wenigen Wochen ab. Die Erkrankung und der Tod seiner Mutter. Die schwierige Beziehung zum Vater. Die erste große Liebe. Freundschaft. Der Umgang mit der eigenen Schüchternheit, mit Selbstbild und Außenwahrnehmung. Das sind wichtige Themen in diesem Buch. Es jagte mir beim ersten Mal einen Frösteln über den Rücken.
Für Erwachsene funktioniert dieses Genre im Sinne eines Rückblicks. Es kommen die vielen Erinnerungen an die eigene Jugend hoch, die Nahtstelle, das Übergehen zum Erwachsenwerden, das sich meist natürlich nicht in wenigen Wochen vollzog. Das ist ein geschickter Kunstgriff. Und nichts wirkt vielleicht eindrücklicher, als die Jugenderinnerungen der Leser*innen zu beschwören, vor allem, wenn sie selbst in den 80ern aufwuchsen.
Ich bin allerdings überrascht, dass es mir beim zweiten Lesen wieder so ergeht. Vorgewarnt sozusagen. Ich bin überrascht, wie tief manche dieser Bilder auf mich wirken, als wären sie aus meinem Leben herausgeschrieben. Dazu brauche ich nicht in meinem Tagebuch blättern, das beweist allein meine körperliche Reaktion auf diese Szenen. Gänsehaut. Wenn Sam wütend das Kino verlässt, gereizt das Mädchen anschnauzt, für das er irgendetwas empfindet … fortgelaufen, alleine die trockene Erde zwischen den Fingern zerquetscht und die Welt anschreit, presst und schreit. – Wenn Kirstie nachts neben Sam auf der Friedhofsbank sitzt, zuhört, versteht, wo sonst niemand wäre, mit dem Sam reden könnte.
„Kirstie sagte nicht ›Alles wird gut‹ oder so einen Quatsch, sondern starrte mich einfach nur wortlos und entschlossen an, während ich ihre Hände an meinen Wangen spürte. Als schlössen wir einen Pakt. Dann ließ sie mich los und verabschiedete sich.“
(Benedict Wells, Hard Land)
Ich bin sehr gespannt.
Berlin – Ein Reiserückblick
vom 07. August 2023
Wenn ich in Berlin und Hamburg bin, verbinde ich die Reisen gerne mit Theaterbesuchen. Da die Sommerpause am Berliner Ensemble noch nicht begonnen hatte, haben wir noch zwei schöne Abende dort verbringen können:
Erstens eine Lesung mit Katharina Thalbach. Gabriele Tergit: „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“. Wenn Frau Thalbach die Bühne betritt, hat sie das Publikum auf ihrer Seite. Der Witz, den sie in Gestik, Mimik und in ihre Sprechweise legt, ist unübertroffen. Lange habe ich nicht mehr so viel gelacht, obwohl die Lesung viele nachdenkliche Momente hat.
Zweitens eine Inszenierung von Luk Perceval. Lion Feuchtwanger: „Exil“. Sehr starkes Bühnenbild, es bestand aus zahlreichen Stühlen, die zusammengestellt den Bühnenaufbau bildeten. Eine zurückgenommene Inszenierung, die von den Darsteller*innen und der Sprache lebte. Feuchtwanger war lange nicht mehr präsent. An dem Roman Exil arbeitete er in den späten 1930er Jahren. Er erschien 1940. Die Hauptfigur, ein Komponist, ist vor den Nationalsozialisten aus München geflohen und lebt bereits zwei Jahre im Pariser Exil. Das Leben im Exil, der Kampf gegen den immer stärker werdenden Einfluss der Nationalsozialisten, die Intrigen, das Scheitern in der eigenen exilierten Familie, das sind Themen, die auch heute wieder brisant erscheinen.
Beide Theaterabende haben Lust gemacht, wieder öfter nach Berlin zu kommen.
Berlin – Ein Reiserückblick
vom 06. August 2023
Der Faltenwurf, ein dezent vorgestrecktes Knie unter dem Umhang. Immer wieder faszinieren mich die griechischen Skulpturen im Alten Museum und im Pergamon Panorama-Museum. Ich kann nicht vorbeigehen. Wenn doch, blicke ich oft noch einmal zurück, bleibe wieder stehen. Es ist die Kunst der Andeutung. Dennoch bekommen wir eine genaue Vorstellung von diesem Körper. Ebenmaß. Perfektion. Idealbild des Menschen, wie es sich die griechischen Künstler dachten.
Berlin – Ein Reiserückblick
vom 05. August 2023
Ich war froh, dass Emmanuel Macron seinen Staatsbesuch abgesagt hatte. Ich wüsste nicht, wie voll und umständlich es dann geworden wäre. Ich persönlich fand mein Date mit Pallas Athene im Alten Museum auch aufregender und die Athene sehr viel attraktiver. Aber Hauptstädter*innen gehen mit solchen Staatsbesuchen ja eh sehr gelassen um. Den Christopher Street Day haben wir dann aber leider verpasst. Das bunte Treiben finde ich wunderbar. Demos gab es während unseres Besuchs allerdings genügend. Am liebsten sind mir jedoch die abendlichen „Demonstrationen“ auf den Spreewiesen; weltoffen, gelassen, ein bisschen herzlich sprachverwirrt, einfach beieinander sitzen, tanzen, schnacken und gut ist. Wir kommen schon klar.
Berlin – Ein Reiserückblick
vom 04. August 2023
Berlin ist laut. Berlin ist quirlig. Schnell denke ich, hier leben, nie und nimmer. Wenn ich dann wieder fort bin, verklärt sich das Bild und ich möchte am Liebsten gleich wieder hin. Wir waren den ganzen Tag in Sachen Kultur auf den Beinen und wurden dennoch nicht müde. (Die Beine wurden es schon.) Von einem Eindruck zum nächsten und immer die Faszination sich auseinanderzusetzen. Das Wetter war so schön, dass wir immer wieder draußen sitzen und ein kleines Päuschen einlegen konnten. In der Provinz sehne ich mich nach Berlin, in Berlin sehne ich mich in die Provinz.
Ein Reiserückblick
vom 03. August 2023
Auf der Reise habe ich eine engagierte Politikerin getroffen, eine sympathische Vertreterin einer demokratischen Partei. Wir kamen ins Gespräch und ich hatte nicht meinen besten Tag. Alles, was ich erwidern wollte, fiel mir erst hinterher ein. Aber das geht mir fast immer so.
Wir sprachen über die Wahlbeteiligung, die bei einer gerade stattgefunden Landratswahl sehr gering gewesen war und ich meinte, dass mir sogar siebzig Prozent bei einer demokratischen Wahl zu wenig seien. Ihr Einwand begann mit: „Ja, man müsse verstehen … nicht alle könnten …“ Ich schwieg.
Ein anderer Punkt war schwerwiegender. Es sei teils schwierig, Wahlkampf auf der Straße zu machen, weil man von manchen Bürgern angegangen, ja bespuckt werde. Das schockierte mich. Ich schwieg.
Ich frage mich mittlerweile, ob das – so schlimm es klingt – nicht das geringere Übel ist. Worauf wollen wir warten? Bis wir bei politischen Meinungsäußerungen auf der Straße befürchten müssen, verhaftet zu werden? Die Tage in der demokratischen Wohlfühlzone sind offensichtlich vorbei. Zu schweigen, hilft nicht.
Der Politikerin war es offenbar sehr wichtig, zuzuhören, zugewandt zu sein, was ich sehr hoch schätze. Mir fehlte jedoch eine deutliche Aussage, mir fehlte das klare Wort: „Das ist meine Sicht. Dafür trete ich an.“ Nein. Wenn dreißig Prozent der Wahlberechtigten ihre demokratische Freiheit nicht nutzen, ja, auch ihrer demokratischen Pflicht nicht nachkommen; Entschuldigung, dann ist mir das zu wenig. Wenn Menschen, die auf der Straße ihre Meinung kundtun, bespuckt werden, ist das erschreckend und eine grundsätzliche Grenze von Demokratie ist überschritten. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Zu schweigen, hilft nicht. Nur Zuhören reicht da auch nicht mehr.