Michael Helm

Weimar – Ein Reiserückblick

vom 01. August 2023

Der Park an der Ilm. Wenn es so heiß ist, wie in den letzten Sommern, ist es ein Genuss, hier zu flanieren. Das kleine Gartenhaus Goethes besuche ich immer, auch wenn ich meistens einfach im Garten sitzen bleibe, um zu schauen. Der Blütenpracht, der Anlage, meinen Gedanken nachgehen. Die Skulpturen im Park, die kleine Grotte, die Ilm, das römische Haus, das alles habe ich bereits gesehen, aber das spielt keine Rolle. Es ist wie zu Hause, dort sehe ich vieles auch täglich. Aber ich möchte es hier anschauen, immer wieder anschauen.

Im vergangenen Jahr haben wir am letzten Schultag vor den Ferien in Thüringen die Schüler*innen hier ausgelassen feiern sehen. Es war lebhaft, selbstverständlich, aber es war lebendig, nicht antik.

Weimar – Ein Reiserückblick

vom 31. Juli 2023

Im Shakespeares lecker gegessen. Ein kleines Restaurant in Weimar, das seit Jahren da ist, wenn wir da sind. Und das ist heutzutage nicht selbstverständlich. Thüringische Spezialitäten, gute Salate, heimisches Bier. Sitzen im Biergarten, bei dieser Wärme, … reden, genießen, … passt.

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Oft sind wir in den Theaterferien unterwegs oder es sind nur die leichten Sommertheaterangebote im Programm; leichte Kost, open air, fast immer ausverkauft. Diesmal nicht.

Wir wurden im Deutsche Nationaltheater Weimar in die ersten beiden Reihen geführt. Obwohl das Stück ausverkauft war, waren die hinteren Reihen abgesperrt. Dort belehrt darüber, was wäre, wenn jemand von uns Platzangst hätte, folgten wir dem Bühnenpersonal auf die Hinterbühne in die Dunkelheit. Zu sitzen kamen wir auf schmalen, engen Bänken in einem Bahnwaggon? Die Türen wurden krachend zugeschlagen. Dunkelheit.

Das Stück „Die große Reise“, nach einem Roman von Jorge Semprún, spielt im Deportationszug von Paris nach Buchenwald. In der Enge des Waggons, mitten im Publikum, spielte das Puppentheater aus Gera dies Stück mit lebensgroßen Puppen und Schauspieler*innen im funzeligen Licht. In bedrückender Nähe. Vor allem die Geräusche, die von Außen auf uns eindrangen … Woher stammt das? … Was ist das? … Die präzise gespielt und gesprochenen Dialoge zwischen Gérard und dem Jungen aus Semur. Alle befinden sich auf dem Abtransport im Viehwaggon nach Deutschland, nach Buchenwald. Sie wissen nicht wohin, von Hunger, Durst und Angst bedroht. Ein verstörender Abend, dem ein längeres Schweigen folgte. Ein guter Abend.

Dies geschah mir, obwohl ich „Die große Reise“ von Jorge Semprún bereits kannte, wie viele seiner anderen Romane. Aber ich werde sie lesen, wieder und immer wieder lesen. Und immer wieder werde ich die Gedenkstätte oben auf dem Ettersberg besuchen.

Weimar – Ein Reiserückblick

vom 30. Juli 2023

Erneuter Besuch der Ausstellung zur Weimarer Republik. Kernthese: Die junge Republik ist nicht an ihren Kinderkrankheiten zugrunde gegangen, sie ist von der extremen Rechten zerstört worden. Dass da Gedanken an unsere Tage wach werden, verwundert nicht.
Die Ausstellung am Theaterplatz ist multimedial sehr gut aufbereitet. Ich besuche sie gerne, weil ich mir jedes Mal einen anderen Bereich der Geschichte der Republik herausgreife. Dieses Mal: Film, Kunst & Kultur in der Weimarer Zeit. Es gibt Filmszenen und Hörbeispiele, denen ich mich intensiv gewidmet habe.

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„Der Himmel verhüte, daß ich von irgend einem denkenden Wesen verlange, mit mir überein zu stimmen, wenn er von der Richtigkeit meiner Behauptungen oder Meynungen nicht überzeugt ist; oder daß ich jemahls fähig werde, jemandem meinen Beyfall deßwegen zu versagen, weil er nicht meiner Meynung ist!“

Christoph Martin Wieland 
Der Neue Teutsche Merkur, Mai 1794,
gelesen in der Ausstellung in Oßmannstedt

Wanderung nach Oßmannstedt. Letztes Jahr im Wielandjahr nicht geschafft, dieses Jahr nachgeholt. Die Wanderung an einem Sommertag, an den man sich wohl gewöhnen muss, viel zu heiß. Das Wielandgut ist dennoch mit reichlich Wasser im Tagesrucksack zu Fuß gut zu erreichen und dank Deutschlandticket konnten wir problemlos mit der Bahn zurückfahren. Im Wieland-Gut findet sich eine kleine Ausstellung zum Leben und Werk des Weimarer Klassikers. Darüber hinaus wurde ich im örtlichen Weimarer Buchhandel aufmerksam auf die vielen relativ jungen Veröffentlichungen zu Wieland, inklusive neuer Wielandbiografie von Jan Philipp Reemtsma: „Die Erfindung der modernen deutschen Literatur. Eine Biographie“. Sehr lesenswert, habe ich mir raten lassen. Reemtsma hat auch einige Wieland-Werke neu herausgegeben.
„Also“, sagt sich der Reisende freudig, „Wieland lesen!“
Das Gut liegt übrigens landschaftlich sehr schön und das Grab des Klassikers kann man dort auch besuchen, im Schatten und unter Bäumen.

Weimar – Ein Reiserückblick

vom 29. Juli 2023

In den Sommerferien waren wir einmal wieder in Weimar unterwegs. Für mich eine Stadt der Entspannung.

Flanieren im Park an der Ilm, zwischen dem Café am Frauentor, dem Shakespeares, einem netten Restaurant mit schönem Biergarten, und dem wunderbaren Eiscafé am Theaterplatz. Und dann schaue ich mir einfach noch einmal an, was ich schon gesehen habe, vertiefen möchte, wieder entdecken oder neu anschauen. Weimar geht immer.

Hier also in den nächsten Tagen einige Reiseeindrücke im Rückblick.

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Im Café am Frauentor sitze ich gerne, … lange … und mit Genuss. Eines der wenigen Cafés, die ich kenne, wo ich keinen grünen Tee in Beuteln bekomme, grüner Tee nicht im kochenden Wasser serviert wird und ich nicht verblüfft angeschaut werde, wenn ich danach frage. Dort kam der Kellner bereits am zweiten Tag mit einem Lächeln auf mich zu: „Sencha im Kännchen?“
Die wissen dort halt, was mich glücklich macht. Grüner Tee garantiert meine geistige Wachheit. In dem Zustand genieße ich den Blick in Richtung Frauenplan, in Richtung Schillerhaus oder einfach den Blick auf die vorbeischlendernden Menschen. Die Seele baumeln lassen. Der Straßenmusik lauschen. Dafür bin ich in Weimar.

Der Fremde

vom 30. August 2022

gesprochen von Ulrich Matthes

Meursault eine Stimme geben? Wer könnte das besser als Ulrich Matthes. Nach meiner Camus-Lektüre in den vergangenen Wochen, habe ich mir „Der Fremde“, gesprochen von Ulrich Matthes, angehört. Bei Hörbüchern bin ich sehr zurückhaltend. Ich mag einige sehr bekannte deutsche Hörbuchsprecher überhaupt nicht. Zu einer Stimme, auf die ich mich stundenlang einlasse, habe ich eine besondere Beziehung. Das muss passen. Das ist nicht zu begründen. Das ist eine Bauchentscheidung. Matthes passt. 

Seiner Stimme kann ich zuhören, auf dem Sofa, auf einem Spaziergang, auf dem überfüllten Bahnsteig. Ich verliere nicht den Faden, wie es mir bei anderen häufig passiert. Er hält mich immer im Stück. 

Camus´ Werke zu sprechen, insbesondere den Fremden, Meursault, ist eine besondere Herausforderung. Ulrich Matthes hält sich zurück, gibt dem Text genau die lakonische Stimmung, die er braucht. Gleichzeitig wirkt die Stimme in den Detailbetonungen nie monoton. Es entstehen Bilder beim Hören, wie sie mir selbst beim Lesen nicht gekommen waren, obwohl ich bei der Lektüre viel mehr Zeit hatte. Rhythmus, Tempo, Pause, das alles wird wunderbar in eine Stimme gebracht, wie ich sie mir für Meursault vorstelle. Diese Stimme bleibt in meinem Kopf. Dank des Autors, dank des Sprechers.

mh

24.08.1922 – Tucholsky vor einhundert Jahren

vom 24. August 2022

„Wir sind fünf Finger an einer Hand“, schreibt Kurt Tucholsky in einem Artikel der Weltbühne 1922. Die fünf aus dem Zitat, das sind Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Kurt Tucholsky selbst. Tucholsky ist eigentlich kein Pseudonym, aber unter all diesen Namen veröffentlichte er in den verschiedenen Zeitungen. Und der Name Tucholsky trollte sich eben wie ein solches im Reigen der anderen Pseudonyme. Zusammen hatten sie die Schlagkraft, die der 1890 in Berlin geborenen Tucholsky aufbringen musste, um gegen die Missstände in der jungen Weimarer Republik anzuschreiben, für die Freiheit und für die Demokratie. „Wir alle Fünf lieben die Demokratie.“

Wir alle Fünf
von Kurt Tucholsky

Die rechtsstehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als »den vielnamigen Herrn« hinzustellen, »der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt«. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma.

Aber wir stammen alle Fünf von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm.

Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte Original-Deutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offiziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereit halten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste Kavallerie-Wachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, dass man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den ›gemeinen Mann‹ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Kommis.

Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht ›gleich‹ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest.

Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf.

Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, dass es schallt, und dass die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke.

Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.

Kurt Tucholsky
Die Weltbühne vom 24.08.1922

Das Missverständnis

vom 19. August 2022

Von Albert Camus

Jan kehrt zurück. Vor sehr vielen Jahren hat er seine Mutter und die Schwester Martha verlassen und ist fortgegangen. Er hat sich am Meer ein besseres Leben aufgebaut, hat geheiratet, ist wohlhabend, aber nicht glücklich geworden. Er kehrt zurück. An seiner Seite Maria, seine Ehefrau. Jan sucht nach der alten Heimat, weiß nicht, ob er von den beiden wiedererkannt werden wird. Er möchte gesehen, erkannt und geliebt werden.

Also macht Jan die Probe und gibt sich als fremder Gast aus, der in der kleinen Pension der beiden Frauen ein Zimmer sucht. Was er nicht weiß: Seit Jahren überfallen die beiden in ihrer Not einsame, wohlhabende Gäste und lassen die Leichen im Fluss verschwinden. Was Martha und die Mutter nicht wissen: Dass ihrem nächsten Verbrechen der Bruder, der eigene Sohn, zum Opfer fallen wird. Ein Missverständnis. Eine Tragödie. Camus macht aus diesem Stoff sein zweites Theaterstück nach Caligula (1938). 

Es geht um die Wahrheit, die sich die Protagonisten gegenseitig vorenthalten. Jan verschweigt, wer er ist. Verschweigt seine Motive, spielt ein Spiel, das tragisch endet. Seine Frau Maria warnt ihn, mahnt zur schlichten, gerade heraus gesprochenen Ehrlichkeit. Jan schlägt den Rat aus und schickt Maria fort. 

In den Gesprächen der Mutter mit dem fremden Sohn und denen Marthas mit dem unerkannten Bruder schwingt immer die Doppeldeutigkeit ihrer Worte. Sie erkennen einander nicht, obwohl die Möglichkeit des Verstehens in jedem Satz mitschwingt. Das Spiel der Unehrlichkeit nimmt seinen tragischen Lauf. Am Ende bleibt der Mensch einsam und steht seinem nüchternen Leben gegenüber. Hilfe, gar Rettung gibt es nicht. Der alte Knecht, der während des ganzen Stückes auftritt und fast jede Szene in schweigender Kälte begleitet, wird zum Schluss ein einziges Mal sprechen. Ein einziges hoffnungsloses Wort. 

Das Theaterstück „Das Missverständnis“, das Camus 1943 geschrieben hat, wurde ein Jahr später von ihm uraufgeführt. Es erinnert stark an eine Szene im Roman „Der Fremde“. Der verhaftete Meursault liest in seiner Zelle immer wieder einen Zeitungsausschnitt in dem die Geschichte dieses „Missverständnisses“ berichtet wird. Beide Werke sind also nicht nur zeitlich eng miteinander verknüpft. Der Fremde ist 1942 erschienen und war Camus´ erster großer Erfolg. 

In beiden Werken finden sich die Figuren in ein absurdes Leben gestellt, aus dem sie in all ihrer Tragik nicht entrinnen können. Im „Missverständnis“ bliebe allein die Ehrlichkeit im Umgang miteinander. Da sich die Menschen im Stück — die sich eigentlich einander nahe fühlen müssten — nicht ehrlich begegnen, gibt es kein Miteinander, gibt es keinen Ausweg. Statt der Gemeinsamkeit bleibt nur die Einsamkeit und letztlich der Tod. 

Das menschliche Drama des Stückes ist es, sich gegenseitig zu verkennen, weil sich der Einzelne vor den anderen verstellt, sein Selbst verschleiert. Jan möchte von der Mutter und der Schwester gesehen, erkannt und geliebt werden. Doch der Sohn und Bruder wird nicht gesehen. Er wird verkannt und ermordet. 

„Das Missverständnis“ wurde von Hinrich Schmidt-Henkel neu übersetzt und ist 2013 bei Rowohlt in einer aktuellen Ausgabe sämtlicher Dramen erschienen.

mh

Albert Camus
Sämtliche Dramen
Rowohlt, 2013, Hardcover
ISBN 978 3 498 00942 7

„Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne“

vom 12. Juli 2022

Motive im Werk Albert Camus´

„So sehen wir nur, wie ein angespannter Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein anzuheben, ihn hinaufzuwälzen und mit ihm wieder und wieder einen Hang zu erklimmen. Wir sehen das Gesicht, die Wange, die sich an den Stein presst (…). Und nun sieht Sisyphos, wie der Stein innerhalb weniger Augenblicke in jene niedere Welt hinabrollt, aus der er ihn wieder hoch auf den Gipfel wälzen muss.“ 

Albert Camus; Der Mythos von Sisyphos [1]

Am 7. November 1913 wurde der französische Schriftsteller Albert Camus in Algerien bei Mondovi geboren. Seine Werke, wie Der Fremde, Die Pest, Der Fall, wurden weltbekannt, besonders, nachdem er 1957 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Trotzdem scheint dieser außergewöhnliche Autor nie ganz erklärbar zu sein. Sein Werk ist durchdrungen von einer grellen nordafrikanischen Sonne, die manches erhellt und gleichzeitig ins gleißende Licht rückt, wo es wiederum blenden, fast schmerzen kann. Die Landschaft seiner Jugend im Mittelmeerraum bleibt in seinem Werk immer spürbar. Das Licht spielt eine tragende Rolle darin. 

„Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne. Vergebens versuchen die Augen mehr festzuhalten als die leuchtenden Farbtropfen, die an den Wimpern zittern. Der herbe Geruch der Kräuter kratzt in der Kehle und benimmt in der ungeheuren Hitze den Atem.“ 

A. Camus; Hochzeit des Lichts [2]

Was Camus in „Hochzeit des Lichts“ schildert zieht sich auch durch sein gesamtes Prosawerk, durch Essays und Tagebücher: Der Fremde begeht einen Mord, weil die Sonne so grell und unerbittlich vom Himmel herab sticht. In Oran, wo Camus´ Roman „Die Pest“ spielt, sind die Menschen eingeschlossen in ihrer Stadt, eingeschlossen im gleißenden Licht der Sonne, eingeschlossen mit der Unausweichlichkeit der Pest. Und in seiner Erzählung „Die Ehebrecherin“ schreibt Camus:

„Die helle Luft schien rings um sie in Schwingung zu geraten, eine zunehmend länger anhaltende Schwingung, als entlocke ihr Schritt dem Kristall des Lichts eine stets weitere Kreise ziehende Klangwelle.“ 

A. Camus; Gesammelte Erzählungen [3]

In der Landschaft des Mittelmeerraums manifestieren sich für Camus die Gegensätze von Licht und Schatten, von Sonne und Meer. In gewisser Weise gehen diese Gegensätze auch in seine philosophischen Essays ein, besonders in seinen „Mythos des Sisyphos“. Den Charakter seines Werkes könnte man auch als bildhaft, als ein „Denken in Bildern“ bezeichnen. Immer wieder verwendet er die gleichfalls im „mittelmeerischen Denken“ entstandenen Bilder der griechischen Mythologie. Im Mythos ist es die Gestalt des Sisyphos, der, verurteilt von den Göttern, einen Stein immerwährend einen Berg hinaufrollen muss. Oben angelangt entgleitet ihm der Brocken und rollt ins Tal. Camus schildert hier das Bild einer sinnlosen Tätigkeit, das Sinnbild eines menschlichen Daseins im Alltagstrott des Immerwiederkehrenden, des Mühsals eines tristen menschlichen Lebens; das Sinnbild der Sinnlosigkeit selbst.

Was interessiert Camus an diesem Sisyphos? Aus dem Nachdenken, über diesen tragischen Helden der Mythologie heraus, stellt er sich Sisyphos als einen absurden Menschen vor, der auf dem Weg vom Berg hinab zurück zu seinem Stein, nachzudenken beginnt. Das ist der Moment seiner möglichen Erkenntnis und der Augenblick seiner Tragik. Denn einmal bewusst erfahren, vermag er das volle Gewicht des Steines zu erfassen, die Sinnlosigkeit und Absurdität seines Daseins zu erkennen. Es bleiben ihm verschiedene Möglichkeiten auf dem Weg hinunter:

Erstens: Im vagen Gefühl der Absurdität seines Lebens wird der konsequente Gedanke des Erkennens verdrängt, sozusagen abgebrochen und Sisyphos setzt seinen Leidensweg unbedacht weiterhin fort. Die Hoffnung auf Erlösung trägt ihn weiter.

Zweitens: Aus dem Gefühl der Absurdität erwächst der Gedanke des Erkennens: die Sinnlosigkeit des eigenen Daseins; die unüberwindbare Kluft der Zerrissenheit zwischen dem Ich und seiner Welt. Diese Welt ist sinnlos. Die Tätigkeit, die die Götter Sisyphos als Strafe auferlegt haben, macht keinen Sinn. Die Hoffnung auf eine göttliche Erlösung ist dahin, gleichfalls die Hoffnung auf die „vernünftige Erlösung“ durch ein philosophisches Ideenkonstrukt. Weder der Glaube noch ein philosophisches System sind für Sisyphos als Auswege möglich. Diese Erkenntnis ist für Camus das Ende jeder Hoffnung. 

Drittens: Aus der Erkenntnis zieht Sisyphos den Schluss sein sinnloses Dasein beenden zu können. Camus beurteilt diese Schlussfolgerung in seinem Essay ebenso als Flucht, wie die Hoffnung auf einen höheren, religiös motivierten Sinn oder den Rückzug auf eine philosophisch abgeleitete Sinnhaftigkeit eines Ideenkonstruktes. Den letzteren Fall bezeichnet Camus als „philosophischen Selbstmord“. 

Der Weg, den sich Camus jedoch für seinen antiken Helden denkt, ist so schwierig wie einfach. Sisyphos erkennt und erträgt. Er erfährt die ganze Absurdität seiner Existenz und hält ihr offenen Auges stand. Er geht – sich dieser Absurdität und sich seiner selbst bewusst – hinunter und beginnt den Stein erneut hinaufzustemmen. Sisyphos verspottet die Götter, verhöhnt sein eigenes Schicksal. In seinem Trotz ist er seinem Schicksal überlegen. Diese Auflehnung gegen den Stein ist für Camus die Revolte. Die moderne Existenz liegt in der Auflehnung, der Mensch verbleibt in der steten Revolte. 

Das Licht, das Sisyphos bescheint, wenn er den Stein auf den höchsten Gipfel gerollt hat, ist nicht nur das erhellende Licht des Erkennens, sondern auch das gleißende Licht des Schmerzes, der den Trost der Hoffnung nicht kennt, das brennenden Licht der Sonne aber erträgt. Und Sisyphos kehrt in den Schatten des Hades zurück, von wo er den Stein am Fuße des Berges aufheben muss, um wieder aufzusteigen. 

Was Albert Camus im Mythos von Sisyphos beschreibt, die Gedanken über das Absurde, den absurden Menschen, das absurde Leben, durchzieht sein ganzes Werk wie das Licht der Mittelmeersonne. Den warmen Glanz des Literaturnobelpreises konnte der Autor allerdings nicht mehr lange genießen. Er verstarb drei Jahre später (1960)  bei einem Verkehrsunfall.

mh

 [1] Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos; rororo, 4. Aufl. 2002; S. 156f. 

[2] Albert Camus: Hochzeit des Lichts – Heimkehr nach Tipasa; Arche 2000; S. 9

[3] Albert Camus: Gesammelte Erzählungen, Die Ehebrecherin; Rowohlt; 1966; S. 118

Albert Camus

vom 07. Juli 2022

Licht und Schatten

Albert Camus schrieb seinen Essay „Licht und Schatten“ in den Jahren 1935/36. Zweiundzwanzig Jahre war er alt. „Der Fremde“ war noch nicht geschrieben. Die ersten Ideen dazu würde er aber bald in „Der glückliche Tod“ entwickeln, einem Roman, den Camus zu Lebzeiten nicht veröffentlichen würde. Die Arbeit an diesem unveröffentlichten Erstling wird aber in diese Zeit fallen.

„Eine Frau, die man allein läßt, um ins Kino zu gehen; ein alter Mann, dem man nicht mehr zuhört; ein Tod, der nichts gutmacht, und auf der anderen Seite alles Licht der Welt.“ 

Kleine Prosa, Licht und Schatten
Rowohlt, 1997, übersetzt von Guido G. Meister; S. 55

Camus beginnt sein Lebenswerk genau an jenem Punkt, an dem viele seiner Texte beginnen, mit dem Blick auf das Ende. Mit der Erfahrung des Todes beginnt Camus´ Denken. „Tod für alle, aber jedem sein eigener Tod“, mit diesen Worten endet der erste Abschnitt in „Licht und Schatten“. 

Dem gegenüber erscheint Camus das Licht, die Sonne, unter der er in Algerien aufgewachsen ist. „Schließlich wärmt die Sonne trotzdem unsere Knochen.“ – Licht und Schatten. 

Und überhaupt spielt Algerien, die Heimat, in diesem Essay eine zentrale Rolle. Camus war am 7. November 1913 in Mondovi als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in kärglichen Verhältnissen geboren worden. Von 1933 – 1936 hatte er in Algier Philosophie studiert. Literarische Bilder und Erinnerungen: An die herrische Großmutter. Die schweigende Mutter; sie war nahezu taub. Den Vater hat Camus früh verloren. Das einfache Leben in Armut. Allerdings auch an das Dasein unter einer überreichen algerischen Sonne und das Meer. Das sind Motive, die Camus in „Licht und Schatten“ früh anlegen wird, die für sein gesamtes Werk prägend sein werden. 

„Freilich betrachte ich ein letztes Mal die Bucht und ihre Lichter, freilich ist das, was nun zu mir heraufdringt, nicht die Hoffnung auf bessere Zeiten, sondern eine abgeklärte, ursprüngliche Gleichgültigkeit allem, auch mir selbst gegenüber. Doch es gilt, sich von dieser zu weichen, zu einlullenden Melodie zu befreien. Und ich brauche einen klaren Kopf. Ja, alles ist einfach. Die Menschen sind es, die die Verwicklungen schaffen.“

Kleine Prosa, Licht und Schatten
Rowohlt, 1997, übersetzt von Guido G. Meister; S. 64

Die Einfachheit seiner frühen algerischen Existenz wird zum prägenden Bild. Die Einfachheit unter der verschwenderischen Fülle der Natur: der Wüste, des Meeres, des grellen Lichts zwischen den antiken Ruinen. Die Mutter, die Großmutter, das Altern und Leben in einfachsten Verhältnissen. Das Mittelmeer prägt Camus´ Gedanken.

Vielleicht hat außer dem Mittelmeer kein anderes Land mich je mir selber gleichzeitig so fern und so nahe gerückt.“

Kleine Prosa, Licht und Schatten
Rowohlt, 1997, übersetzt von Guido G. Meister; S. 77

mh

Leseempfehlungen:

Licht und Schatten (Essay) in: Kleine Prosa
Rowohlt, 1997, übersetzt von Guido G. Meister

Der glückliche Tod
Roman. Rowohlt, 1997, übersetzt von Eva Rechel-Mertens

Hochzeit des Lichts — Heimkehr nach Tipasa
Impressionen am Rande der Wüste
Arche, 2000, übersetzt von Peter Gan & Monique Lang

Albert Camus

vom 27. Juni 2022

Die Ausgangslage II

Camus´ Gedanken teilt man oder eben nicht. Diesen Satz habe ich oft gehört. Das sei eben keine strenge Philosophie. Das kann sie gar nicht sein, war immer meine Erwiderung. Hatte nicht Camus selbst behauptet, die Philosophie gehöre zu den Sinnstiftungs-Überbauten denen sich der Mensch hingäbe, um dem Absurden zu entfliehen? Überhaupt, das Gefühl des Absurden. Vielleicht fingen die Differenzen mit meiner Philosophielehrerin schon hier an. Gefühle sind nicht Gegenstand der Philosophie. Der Schüler der zwölften Klasse kann sie schlecht ignorieren und es fällt ihm bis heute schwer. 

Das alles ist eine unzureichende Begründung dafür, dass ich mir wieder die Bände von und über Albert Camus hervorgeholt habe. Erst die Biografie von Olivier Todd, dann die von Iris Radisch. Parallel dazu „Der Fremde“ und „Licht und Schatten“. 

Olivier Todd beschreibt das Leben Camus´ so detail- und umfangreich, dass ich die Lektüre nach hundert Seiten abgebrochen habe. Mir fehlte die Ausdauer. Das Buch von Iris Radisch hat mich dann etwas geärgert. Ich bezweifle mittlerweile, dass man solche Wertungen und Beurteilungen über einen Menschen zu treffen in der Lage ist. Nicht falsch verstehen: Das Buch ist aus literaturwissenschaftlicher Perspektive vortrefflich recherchiert. Es ist fundiert und alles darin scheint sicher belegt. Zweifel darüber, das Leben eines längst verstorbenen Autors so zu beurteilen, bleiben mir dennoch. 

Zu vieles scheint mir in solchen Biografien durch die Brille der heutigen Zeit betrachtet, mit heutigen Beurteilungskriterien bemessen zu sein. Zeitlicher Abstand macht überlegen, überheblich. Camus als Dandy und Frauenheld, das ist alles benannt, aber nicht hinreichend erklärbar. Wie will man es auch erklären, ohne deutlich zu machen, dass es sich nur um eine Näherung an einen Menschen handeln kann. Ich ahne als Leser, dass biografisch, psychologisch einiges mehr dahinter stecken muss, als darstellbar wäre. 

Ist ein Mensch — der sich selbst nicht ohne Selbstzweifel erklären könnte — überhaupt erklärbar. Eine Näherung an ihn, vielleicht hilfreich, eine umfassende Darstellung seines Selbst in seiner Zeit, unmöglich. Denke ich heute.  

Mit diesem Zweifel gelesen, war die Biografie „Albert Camus – Das Ideal der Einfachheit“ dann doch noch ganz lesenswert für mich. Mein Fazit ist allerdings, dass ich Biografien zunehmend misstraue. Das hat vielleicht weniger mit dem Buch von Frau Radisch zu tun, als mit dem misstrauischen Gedanken selbst. Vielleicht ist der Ansatz eines Olivier Todd dann doch gewinnbringender und ich muss die nötige Geduld aufbringen, die vielen Details nebeneinander stehen zu sehen. Besser ist es allemal, die Werke, Tagebücher und Nachlassschriften selber zu lesen und einzuordnen. Ich bin gefordert.

mh

Olivier Todd
Albert Camus – Ein Leben

Übersetzt von Doris Heinemann
Rowohlt, 1999

Iris Radisch
Das Ideal der Einfachheit – Eine Biographie

Rowohlt, 2014