Michael Helm

Kaspars Gedankengang IV

… abends lese ich gerne noch ein paar Gedichte vor dem Einschlafen. Für die kurze Form ein wunderbarer Moment … Wenn sie mir gefallen, lese ich sie mehrfach, langsam, Wort für Wort … und ihren Klang nehme ich hinüber in den Schlaf. 

Seit einigen Wochen liegt das Buch der Lieder von Heinrich Heine auf meinem Nachttisch. Ich habe es schon häufig gelesen oder darin geblättert, weil ich ein bestimmtes Gedicht gesucht hatte und dann jene rechts und links wieder entdeckte. Im besten Falle lese ich seine Gedichte laut, um ihren Klang selbst zu hören, … mitzubekommen, was meine Stimme und Heines Worte in mir anrichten … diesmal die Düsseldorfer Ausgabe:

Heinrich Heine
Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke

Düsseldorfer Ausgabe
Hrg. von Manfred Windfuhr
Hoffmann und Campe, 1975
ISBN 3-455-03001-7

Die ersten Gedichte der Ausgabe fallen mir zu leicht, ich lese sie so weg … frage mich, warum … stocke … mir wird klar, dass ich nicht mehr mit dem Bezug lese, den ich noch als Schüler dazu hatte … hatte ich? … Lese alte Tagebücher und fühle mich bestätigt. Damals noch eine deutliche Hinwendung zu einer „düsteren“ Romantik. Aber Heines Ton der frühen Gedichte, die sich noch an die Romantik anlehnen, sagen mir kaum noch etwas … sie bleiben nicht mehr hängen … Auch scheinen mir, die Gedichte zielen weniger auf eine Veröffentlichung in einer Buchausgabe. Vielleicht hatten sie eine andere Wirkung, hier und da gelesen in Zeitschriften und Journalen, in denen sie Heine vorher veröffentlichte …

Im Vorwort betont Heine die chronologische Anordnung im Buch der Lieder und das er später immer wieder hier und dort eine kleine Änderung vorgenommen habe. In der Düsseldorfer Ausgabe stehen sich dann Gedichte letzter Hand des Buchs der Lieder und die Formen der gleichen Gedichte, wie er sie in Zeitschriften drucken ließ, auf den Seiten direkt gegenüber … spannend, weil man sehen kann, was er dann noch änderte. In der Regel Kleinigkeiten, die den Ton nicht variieren … Ich denke dann darüber nach, was ihn zu dieser oder jener Abwandlung bewogen hat … Manchmal eine Idee dazu, manchmal auch keine … Seltener fallen einzelne Strophen weg. Das ist dann schon auffallend und lässt Raum für Interpretationen …

… überhaupt die Vorworte Heines … Mir kommt die Idee, einmal etwas nur über die Vorworte seiner Bücher zu schreiben. Das ist ein Genuss für sich. 

„(…) Nicht ohne Befangenheit übergebe ich der Lesewelt den erneueten Abdruck dieses Buches. Es hat mir die größte Ueberwindung gekostet, ich habe fast ein ganzes Jahr gezaudert, ehe ich mich zur flüchtigen Durchsicht desselben entschließen konnte. Bey seinem Anblick erwachte in mir all jenes Unbehagen, das mir einst vor zehn Jahren, bey der ersten Publikazion, die Seele beklemmte. Verstehen wird diese Empfindung nur der Dichter oder Dichterling, der seine ersten Gedichte gedruckt sah. Erste Gedichte! Sie müssen auf nachlässigen, verblichenen Blättern geschrieben seyn, dazwischen, hie und da, müssen welke Blumen liegen, oder eine blonde Locke, oder ein verfärbtes Stückchen Band, und an mancher Stelle muß noch die Spur einer Thräne sichtbar seyn… Erste Gedichte aber, die gedruckt sind, grell schwarz gedruckt auf entsetzlich glattem Papier, diese haben ihren süßesten, jungfräulichsten Reitz verloren und erregen bey dem Verfasser einen schauerlichen Mißmuth. (…)“

Heinrich Heine
Vorrede zur zweiten Auflage
(obige Ausgabe, S. 563)

Scheinbar ging es ihm nicht anders als mir? … Ich will mir das nicht anmaßen, zu denken, habe es aber schon getan … 

Dieser Ton der Vorworte ist der Heine-Ton, den ich so schätze: ironisch, auch selbstironisch, der Ton eines Spötters, der kein Blatt vor den Mund nahm und sich bestimmt nur selten etwas vormachen ließ … 

Dieser Ton ist in den späteren Gedichten des Bandes schon vernehmbarer … so wunderte es mich nicht, dass ich seine Nordseegedichte dann mit viel größerer Lust las, als früher … habe mir einige herausgeschrieben, die von mir bisher nur wenig Beachtung gefunden hatten … dafür hat es sich gelohnt, wie es sich immer lohnt, ein altes Buch, auch zum wiederholten Male zur Hand zu nehmen … die Musik bleibt nie dieselbe … und bei Heinrich Heine war es bestimmt nicht zum letzten Mal …

Kaspar Hauser

Heute ist der Todestag Heinrich Heines

Am 17. Februar 1856 ist Heinrich Heine in Paris gestorben. Auf dem Friedhof Montmartre liegt er begraben. Es war die Stadt seines Exils, seine zweite Heimat, nachdem seine Schriften in Preußen verboten worden waren.

Matinee mit Michael Helm
„Alles dreht sich hier im Kreise“ – Heines munter-quirliges Paris
Stadtbibliothek Herford | 10.05.20 | 11 Uhr | Infos

In Paris verbrachte er auch die letzten acht leidvollen Jahre vor seinem Tod. Gefesselt an die Matratzengruft, wie er sein Krankenlager selbst beschrieb, unfähig sich zu bewegen, teilweise gelähmt. Dennoch stammen viele seiner bedeutenden Gedichte aus dieser Zeit und wurden im Romanzero, einem späten Gedichtband veröffentlicht.

Zum Lazarus
von Heinrich Heine

Laß die heilgen Parabolen,
Laß die frommen Hypothesen –
Suche die verdammten Fragen
Ohne Umschweif uns zu lösen.

Warum schleppt sich blutend, elend,
Unter Kreuzlast der Gerechte,
Während glücklich als ein Sieger
Trabt auf hohem Roß der Schlechte?

Woran liegt die Schuld? Ist etwa
Unser Herr nicht ganz allmächtig?
Oder treibt er selbst den Unfug?
Ach, das wäre niederträchtig.

Also fragen wir beständig,
Bis man uns mit einer Handvoll
Erde endlich stopft die Mäuler –
Aber ist das eine Antwort?

(Gedichte 1853 und 1854)

Hörschnipsel

Hier vorab ein Hörschnipsel der Probe für die Heine-Lesung morgen in der Buchhandlung Herdecke.

Heinrich Heine | Memoiren (Auszug) | gelesen von Michael Helm

Heinrich Heine – Ein Dichter mit Ecken und Kanten
06.02.2020 | Buchhandlung Herdecke | 19.30 Uhr | ausverkauft

Müde bin ich, geh´zur Ruh´…

Zwei Tage, drei Lesungen und eine Probe gut überstanden. Schöne Veranstaltungen: ein Abend zu Heinrich Heine, eine Lesung zum Wiederaufbau der Synagoge in Herford vor SchülerInnen, ein schöner literarischer Abend in der Buchhandlung Mondo bei der Tentakel-Lesung gestern Abend. Jetzt bin ich zufrieden, aber etwas ausgelaugt wieder daheim. Ein ruhiges Wochenende kann gerne kommen…

mh

Presse: Heine – Ein Leben im Exil

"Michael Helm hat einmal mehr ein Händchen bewiesen für die markigen Textpassagen verschiedener Werke, um den Zuhörern ein möglichst plastisches Bild des deutschen Dichters und Denkers zu zeichnen. Vor Wortwitz und Hintergründigkeit sprühende Verse stellt er Dichtungen Heines gegenüber, die in blumiger, romantischer Sprache von einer ganz anderen Facette des Menschen Heinrich Heine zeugen."

Daniela Dembert (27.01.2017, Spenger Nachrichten) zur Lesung "Heinrich Heine II - Ein Leben im Exil"

Heute vor …

… 161 Jahren ist ein unbequemer, aber wichtiger Dichter von uns gegangen: Heinrich Heine. Wenn viele Kritiker sagen, er habe polarisiert, damals wie heute, so war und ist diese Polarisation wichtig, in seinen Tagen und in unseren. (more…)

Das beste Europa, das wir bisher hatten

Gedanken zur Heine-Lesung am Mittwoch

Wenn ich am kommenden Mittwoch (25.01.17, 19.30 Uhr, Infos») zur Heinrich Heine-Lesung in Spenge antrete, so diesmal mit dem Gefühl, dass es keine Heine-Lesung ist, wie viele der zurückliegenden: ein anregender Abend mit Gedichten und Texten des deutschen Dichters. Heine war immer aktuell, keine Frage. Aber etwas hat sich verändert. Was wird aus diesem Europa, für das Heine schon in seiner Epoche, als es die EU noch gar nicht gab, so vehement eintrat? Es gab seinerzeit nicht einmal ein Deutschland, wie wir es heute kennen, geschweige eine Deutsch-französische-Freundschaft. (more…)

Aus dem Block …

Der Fremde

gesprochen von Ulrich Matthes

Meursault eine Stimme geben? Wer könnte das besser als Ulrich Matthes. Nach meiner Camus-Lektüre in den vergangenen Wochen, habe ich mir „Der Fremde“, gesprochen von Ulrich Matthes, angehört. Bei Hörbüchern bin ich sehr zurückhaltend. Ich mag einige sehr bekannte deutsche Hörbuchsprecher überhaupt nicht. Zu einer Stimme, auf die ich mich stundenlang einlasse, habe ich eine besondere Beziehung. Das muss passen. Das ist nicht zu begründen. Das ist eine Bauchentscheidung. Matthes passt. 

Seiner Stimme kann ich zuhören, auf dem Sofa, auf einem Spaziergang, auf dem überfüllten Bahnsteig. Ich verliere nicht den Faden, wie es mir bei anderen häufig passiert. Er hält mich immer im Stück. 

Camus´ Werke zu sprechen, insbesondere den Fremden, Meursault, ist eine besondere Herausforderung. Ulrich Matthes hält sich zurück, gibt dem Text genau die lakonische Stimmung, die er braucht. Gleichzeitig wirkt die Stimme in den Detailbetonungen nie monoton. Es entstehen Bilder beim Hören, wie sie mir selbst beim Lesen nicht gekommen waren, obwohl ich bei der Lektüre viel mehr Zeit hatte. Rhythmus, Tempo, Pause, das alles wird wunderbar in eine Stimme gebracht, wie ich sie mir für Meursault vorstelle. Diese Stimme bleibt in meinem Kopf. Dank des Autors, dank des Sprechers.

mh

24.08.1922 – Tucholsky vor einhundert Jahren

„Wir sind fünf Finger an einer Hand“, schreibt Kurt Tucholsky in einem Artikel der Weltbühne 1922. Die fünf aus dem Zitat, das sind Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Kurt Tucholsky selbst. Tucholsky ist eigentlich kein Pseudonym, aber unter all diesen Namen veröffentlichte er in den verschiedenen Zeitungen. Und der Name Tucholsky trollte sich eben wie ein solches im Reigen der anderen Pseudonyme. Zusammen hatten sie die Schlagkraft, die der 1890 in Berlin geborenen Tucholsky aufbringen musste, um gegen die Missstände in der jungen Weimarer Republik anzuschreiben, für die Freiheit und für die Demokratie. „Wir alle Fünf lieben die Demokratie.“

Wir alle Fünf
von Kurt Tucholsky

Die rechtsstehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als »den vielnamigen Herrn« hinzustellen, »der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt«. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma.

Aber wir stammen alle Fünf von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm.

Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte Original-Deutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offiziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereit halten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste Kavallerie-Wachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, dass man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den ›gemeinen Mann‹ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Kommis.

Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht ›gleich‹ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest.

Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf.

Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, dass es schallt, und dass die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke.

Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.

Kurt Tucholsky
Die Weltbühne vom 24.08.1922