Prolog einer Lesung Eine fiktive Geschichte mit dem einen oder anderen Körnchen Wahrheit.
»Eine Lesung über Sizilien?« fragte er. »Warum machen Sie das?« und er kritzelte meinen Namen auf seinen Block. »Weil ich vor einigen Jahren dorthin gereist bin«, antwortete ich. »Und warum ausgerechnet nach Sizilien?« »Weil ich Italien, speziell Süditalien interessant finde – oder vielmehr spannend, vielleicht bezaubernd?« »Hm hm«, machte er und schrieb Unlesbares. »Nun ja, es könnte genauso gut die Provence, Lissabon oder Prag sein; aber vielleicht wegen der Landschaft, der Leute, der Kunst, der antiken Geschichte?« »Wegen Geschichte und Kunst also?« »Ja und Literatur; also Goethe war da.« »Ach ja, Goethe war da, … der war also auch da?« Er kritzelte wohl Goethe war auch da auf seinen Block. »Eben der Atem der Jahrtausende, verstehen Sie …?« sagte ich unsicher.
Sizilien Lesung mit Michael Helm Stadtbibliothek Herford | 21.08.2020 | 19.30 Uhr | Infos Im Hinterhof der Stadtbibliothek (open air) Veranstaltet vom Förderverein Buch.Bar
Der Mann von der Zeitung starrte mich etwas befremdet an. Wieder einmal konnte ich nicht ausdrücken, warum ich etwas tat. Warum in mir dieses Gefühl war, es nicht lassen zu können, etwas zu vermissen, wenn ich es nicht täte. Alles was ich gesagt hatte, war richtig und verständlich und doch, irgendwie …
»Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen«, sagte ich und jetzt war ich in meinem Element. »Wissen Sie, in der kleinen Stadt, in der ich aufwuchs, im Ruhrgebiet, fand jedes Jahr ein kleines Volksfest statt. Erbsensuppe, heimischer Honig, gegrillte Würstchen und so. Eine ganze Woche im Mai hatten die Leute rund um das Rathaus und die alte Stiftskirche einen Heidenspaß. Es gab Buden, es gab Musik und Spiele und natürlich diesen Wettlauf, bei dem wir Kinder ein Art Jutesack trugen, weil die Männer in früheren Zeiten die Kartoffeln in riesigen Säcken auf ihrem Rücken zum Marktplatz in den Ort getragen hatten. Im Stolz auf diese Sackträgertradition liefen wir Kinder, angetrieben von den zahlreichen Passanten, mit unseren Kartoffelsäcken und den schlotternden Holzschuhen an unseren Füßen auf dem unebenen Kopfsteinpflaster um die Wette. Ein riesiger Spaß, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde – und jetzt kommt´s – den nicht selten ein Alessio, ein Antonio oder eine Giulia gewann. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, dass es die italienischen Väter waren, die ihre bambini so aufgeregt anfeuerten. Und wenn Antonio am Ende wirklich gewonnen hatte, dann wurde er unter großem Hallo von einem Vater zum nächsten in den Himmel gereicht.
Es waren die damals so geschimpften „Gastarbeiter“, die mit zunehmender Begeisterung die Stimmung auf unseren Festen ausmachten. Auch wenn sich meine Großeltern ziemlich darüber verwundert haben, dass Gerüche wie Thymian, Majoran und Knoblauch, neben das Bratwurst- und Gulaschsuppenambiente traten, fand ich die ausgelassene Stimmung, die Antonios und Santinos Familien verbreiteten, nahezu ansteckend.
In der Schule hatte ich die Jungen für Nachbarn gehalten und dabei gar nicht an Florenz, Neapel oder Palermo gedacht. Das waren die Jungs von nebenan. Ich sage Ihnen, die Ausgelassenheit deutsch-italienischer Volksfeste hat sich mir eingeprägt und ist zu einem Gefühl von Heimat und Kindheit geworden.
Das waren die Jungs von nebenan
Und übrigens ist das beste Restaurant in der Stadt unser Sizilianer – der Edelitaliener! Seine Antipasti sind unübertroffen, perfettamente.
Wenn wir ihm erzählen, dass wir seine Heimat besuchen, dann bekommt er funkelnde Augen. Ich weiß, es ist das Glühen des Etnas in seinem Blick, das den Sizilianer vom Pizzabäcker aus Bari unterscheidet. Wenn er Zeit hat, setzt sich Santino zu uns an den Tisch und plaudert. Ihn frage ich, ob es due espressi heißen müsse, um mich nicht in seiner Heimat zu blamieren.
»No no, ganz falsch«, sagt er dann grinsend.
»In Sizilien bestellt niemand due espressi! Due caffè, ganz einfach. Du bestellst due caffè und bekommst was du möchtest. Die Tasse Kaffee, die ihr zu Kaffee und Kuchen bestellt, heißt caffè americano.« Er lacht sich richtig in Rage. »Und bitte bestell´ nie ein …, wie heißt das: ein Kännchen?«
Auch der Reporter schmunzelte nun und stellte keine weiteren Fragen. Ich hätte wahrscheinlich nicht eine wirklich beantworten können und er wäre ja auch gar nicht dazwischen gekommen, denn ich war mit meiner persönlichen sizilianischen Geschichte noch lange nicht fertig …
Michael Helm
Etna
Fotografische Biografie
„(…) dann schließt der ungeheure, dampfende Feuerberg das weite, breite Bild, aber nicht schrecklich, denn die mildernde Atmosphäre zeigt ihn entfernter und sanfter, als er ist.“
So beschrieb Goethe seinen Anblick des Etnas. Er schaute einst vom antiken Theater in Taormina auf den Berg.
Vor mir liegt er majestätisch kühl. Es juckt ihn gar nicht. Dass ich hier bin. Dass ich ihn betrachte. Über das Vergangene nachdenke, wie ich es an solchen Orten gerne tue. Im Denken handeln. Sich im Anblick der Welt verändern lassen. Im Anblick dieses Berges.
Ich muss ihn nicht heilig nennen, wie die Griechen. Sie bauten ihr Theater so, dass er alles überragte. Das menschliche Schicksal. Das Spiel im Theater. Er war ihnen mehr, als nur Kulisse.
Seinen Launen haben wir uns zu fügen. Bedeckt er sich, sehen wir ihn nicht. Beginnt er zu rasen, dann haben wir uns unterzuordnen. Wir können das beklagen oder nicht. Es juckt ihn nicht, wie wir ihn nennen.
In ihrer Selbstvergötterung verbauten die Römer den Blick der unteren Ränge auf den Etna mit einer Theatermauer. Heute liegt sie eingefallen vor uns. Sie wollten ihn nicht mehr sehen müssen.
Wir können unsere Augen schließen. Fort ist er nicht. Da ist es vielleicht besser, offenen Auges hinzuschauen, sich beeindrucken zu lassen, wie Goethe es tat. Sehend werden.
mh
Presse zur Sizilienlesung
Hier finden Sie den Artikel über die Sizilienlesung in Löhne. Mir ist es ja egal, jetzt bin ich halt auch Bochumer. Reiht sich nahtlos ein in die Reihe meiner Heimatstädte: Düsseldorf, Neuss, Dortmund, Bielefeld, Herford, Enger, Herdecke, etc. etc. Ich finde, es fehlt irgendwie noch etwas ganz Bedeutendes. Paris wäre noch schön oder wenigstens Lissabon. Deshalb sage ich ja immer ganz salomonisch, wenn ich nach meiner Heimat gefragt werde: Europa! Übrigens meine ich damit auch Großbritannien, die mögen austreten so oft sie wollen!
mh
PS. Meine eigentliche, heimliche Geburtsstadt fehlt da übrigens. Sach ich jetz´ aber nich laut...
Aus dem Block …
Der Fremde
gesprochen von Ulrich Matthes
Meursault eine Stimme geben? Wer könnte das besser als Ulrich Matthes. Nach meiner Camus-Lektüre in den vergangenen Wochen, habe ich mir „Der Fremde“, gesprochen von Ulrich Matthes, angehört. Bei Hörbüchern bin ich sehr zurückhaltend. Ich mag einige sehr bekannte deutsche Hörbuchsprecher überhaupt nicht. Zu einer Stimme, auf die ich mich stundenlang einlasse, habe ich eine besondere Beziehung. Das muss passen. Das ist nicht zu begründen. Das ist eine Bauchentscheidung. Matthes passt.
Seiner Stimme kann ich zuhören, auf dem Sofa, auf einem Spaziergang, auf dem überfüllten Bahnsteig. Ich verliere nicht den Faden, wie es mir bei anderen häufig passiert. Er hält mich immer im Stück.
Camus´ Werke zu sprechen, insbesondere den Fremden, Meursault, ist eine besondere Herausforderung. Ulrich Matthes hält sich zurück, gibt dem Text genau die lakonische Stimmung, die er braucht. Gleichzeitig wirkt die Stimme in den Detailbetonungen nie monoton. Es entstehen Bilder beim Hören, wie sie mir selbst beim Lesen nicht gekommen waren, obwohl ich bei der Lektüre viel mehr Zeit hatte. Rhythmus, Tempo, Pause, das alles wird wunderbar in eine Stimme gebracht, wie ich sie mir für Meursault vorstelle. Diese Stimme bleibt in meinem Kopf. Dank des Autors, dank des Sprechers.
mh
24.08.1922 – Tucholsky vor einhundert Jahren
„Wir sind fünf Finger an einer Hand“, schreibt Kurt Tucholsky in einem Artikel der Weltbühne 1922. Die fünf aus dem Zitat, das sind Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Kurt Tucholsky selbst. Tucholsky ist eigentlich kein Pseudonym, aber unter all diesen Namen veröffentlichte er in den verschiedenen Zeitungen. Und der Name Tucholsky trollte sich eben wie ein solches im Reigen der anderen Pseudonyme. Zusammen hatten sie die Schlagkraft, die der 1890 in Berlin geborenen Tucholsky aufbringen musste, um gegen die Missstände in der jungen Weimarer Republik anzuschreiben, für die Freiheit und für die Demokratie. „Wir alle Fünf lieben die Demokratie.“
Wir alle Fünf von Kurt Tucholsky
Die rechtsstehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als »den vielnamigen Herrn« hinzustellen, »der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt«. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma.
Aber wir stammen alle Fünf von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm.
Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte Original-Deutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offiziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereit halten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste Kavallerie-Wachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, dass man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den ›gemeinen Mann‹ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Kommis.
Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht ›gleich‹ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest.
Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf.
Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, dass es schallt, und dass die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke.
Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.