Michael Helm

Alles beginnt mit …

Eine musikalische Biografie I

In „sozialen Medien“ bin ich auf die Idee gekommen. Dort posten Leute insgesamt zehn Musikalben, die in ihrem Leben bedeutend waren. Eigentlich finde ich die Idee gut, aber dort werden oft nur Plattencover gezeigt (die man kennt oder nicht) und meist steht nicht viel dazu geschrieben. Aber gerade das würde mich doch interessieren. Dass viele meiner „Follower“ Bob Dylan gehört haben, geschenkt. Warum? Zu welcher Zeit? In welcher Situation? Hier also jetzt ein erster Text (ohne Cover) …

ES WAR DER FILM! Wir gingen fast in jedes Studiokino der Umgebung, wenn er angekündigt war. Das war besser als jeder Discobesuch, in diesen altmodischen kleinen Kinosälen. Saal ist übertrieben.

Um noch Karten zu bekommen, mussten wir meist früh da sein. Wir bekamen dann diese kleinen Abrisskärtchen, durchnummeriert, aber ohne konkreten Aufdruck, die man wochenlang in der Jackentasche mit sich herumtrug und nicht wusste, in welchem Film man damit gewesen war. Der Freund war immer dabei, der, der mich überhaupt auf die Band gebracht hatte, und dessen Vater alle ihre Platten aus den 60ern und 70ern im Plattenregal hatte. An den Kinoabenden kamen dann noch lose Schulfreunde hinzu. Niemand sah den Film zum ersten Mal, aber der Freund und ich brachten in den Jahren wahrscheinlich weit über fünfzehn, vielleicht sogar über zwanzig Kinobesuche des Films zusammen. Das waren keine Nächte vor dem Video- oder DVD-Player. Nein, Kinoerlebnisse, das war Kult. Die roten Kinosessel zum Reinfleetzen. Der etwas muffige Geruch. Die Leute alle etwas anders drauf, als bei den großwandigen Hollywood-Schinken, in die wir natürlich auch gingen, die dem Film natürlich nicht das Wasser reichen konnten. Absolut gar nicht! Überhaupt keine Frage. Wir waren da schon echt anders. Reflektierter, intellektueller, vor allem aber arroganter. 

„Die Musik ging mir tagelang unter die Haut“

Kamen wir aus dem Kino, war mir der Film tief ins Gesicht geschrieben. Es folgten Diskussionen bis tief in die Nacht: jede Szene rauf und runter. Der Junge, der die Hand des fremden Vaters auf dem Spielplatz ergreift und abgewiesen wird. Der Tunnel und die maskenhaften Gesichter, dicht gedrängt in einem vorbeirasenden Zug. Die Zeichentricksequenzen. Natürlich das Gewürm, das expressiv aus der Haut platzt. Die Musik ging mir tagelang unter die Haut. Die Bilder kamen immer wieder hervor. Morgens im Unterricht, dem ich dann zweigleisig folgen musste, weil die Gedanken an die Filmszenen nicht verblassten. Und ich wollte ja auch gar nicht, dass sie verschwanden. Sie waren Gedankenfutter, überlagerten die schnöden Schulthemen. Hin und her haben wir die Texte von Waters gedreht, sie wurden unser alltäglicher Wortschatz, haben immer und immer wieder die Gilmour-Passagen auf der LP gehört, bis die Rillen mit der Zeit erheblich tiefer geworden sein müssen. 

Die Pink Floyd-Platte The Wall beginnt für mich mit dem Film. Er wurde fast zur Manie. Und die Diskussionen im Anschluss endeten nicht selten in Streitigkeiten mit den armen Zeitgenossen, die es wagten, den Film nicht zu mögen. Welch ein Kulturbanausentum, schrie ich. Reuig entschuldige ich mich rückblickend für die Arroganz meiner vehementen Gegenrede. Die hat Freundschaften auf´s Spiel gesetzt, ich weiß. Und wahrscheinlich habe ich ziemlichen Unsinn geredet. 

Pink Floyd – The Wall (Film, 1982)
Regie: Alan Parker
Drehbuch: Roger Waters
Hauptrolle: Bob Geldorf (Pink)

Aber es machte mich damals schon krank, wenn Another brick in the wall Part II — das so populär geworden war — bei Schulaufführungen gut gemeint und schlecht inszeniert getänzelt auf die Bühne kam, nur, weil es doch ach so viel mit der Lebenswelt Schule zu tun hatte. Glaubten die Lehrer. Das machte mich so wütend — und ungerecht. Es war vielleicht nur der Ausbruch meiner eigenen angekratzten Selbstgewissheit. Die Musik hat mich gefordert, vielleicht sogar überfordert. Es ist das Wesen der Musik, die einen lebenslang begleitet.

The Wall wurde die Platte, mit der ich etwas in mir fand, das ich vorher nicht gekannt hatte. Viele der Themen auf der LP bewegen mich noch immer (auch wenn ich mittlerweile meist andere Pink Floyd-Platten spiele): die Fragen nach den Folgen des Kriegs, nach den Ursachen faschistischer Tendenzen und nach der Einsamkeit des Protagonisten. Noch heute greifen mich einzelne Passagen von The Wall so an, dass ich sie nicht immer hören kann. Comfortably Numb ist für mich kein Hörerlebnis, sondern eine physische Erfahrung. Gleichfalls zeigt es mir, wie tief verwurzelt die Musik in einem liegen muss, dass sie mich ein Leben lang begleitet.

Pink Floyd – The Wall (LP, 1979)
Roger Waters (Bass & Gesang)
David Gilmour (Gitarre & Gesang)
Richard Wright (Keyboard & Gesang)
Nick Mason (Schlagzeug & Percussion)

Michael Helm

One of These Days! oder: Hymnen an die Nacht reloaded!

Wenn ich des Nachts von Novalis träume, dann gerade nicht wegen einer erneuten Suche nach seiner blauen Blume, sondern einfach, weil das mein Job ist! Also Hymnen an die Nacht reloaded! Das kann einen mitnehmen und etwas wirr machen.

An solchen Tagen hilft nur, eine alte Scheibe aufzulegen. Der Satz klingt, als wäre er aus Vinyl gegossen. Da ich das Knistern dieser schwarzen Scheiben – die einmal mein Weltbild bedeuteten – nicht vermisse, bedeutet Scheibe hier Compact Disc, was den Jüngeren ja antiquiert genug erscheint. (more…)

Aus dem Block …

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.

Jon Fosse bekommt Literaturnobelpreis

Hier noch der Link zu einem älteren Beitrag.