Kurt Tucholsky veröffentlichte das folgende Gedicht 1930 unter dem Pseudonym Theobald Tiger in der „Arbeiter Illustrierte Zeitung“. Tucholsky wurde 1890 in Berlin geboren und starb 1935 in Göteborg im Exil. Er war die warnende Stimme der Weimarer Republik; ein hellsichtiger Geist, der in seinen Veröffentlichungen benannte, was auf Deutschland in den Dreißigern zukam.
Augen in der Großstadt von Theobald Tiger
Wenn du zur Arbeit gehst am frühen Morgen, wenn du am Bahnhof stehst mit deinen Sorgen: da zeigt die Stadt dir asphaltglatt im Menschentrichter Millionen Gesichter: Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider – Was war das? vielleicht dein Lebensglück … vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang auf tausend Straßen; du siehst auf deinem Gang, die dich vergaßen. Ein Auge winkt, die Seele klingt; du hasts gefunden, nur für Sekunden … Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider; Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück … Vorbei, verweht, nie wieder.
Du mußt auf deinem Gang durch Städte wandern; siehst einen Pulsschlag lang den fremden Andern. Es kann ein Feind sein, es kann ein Freund sein, es kann im Kampfe dein Genosse sein. Es sieht hinüber und zieht vorüber … Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider. Was war das? Von der großen Menschheit ein Stück! Vorbei, verweht, nie wieder.
Ein Gedicht
Es scheint die Sonne, es ist angenehm warm.
Auch die Nächte sind nicht zu kalt.
Stille, man hört lediglich die Vögel, den Wind.
Ich bin für mich allein, schaue in die Ferne,
weit und breit nur Berge und Wälder.
Am Fuße des Hügels, auf dem ich in einem kleinen Häuschen lebe,
liegt ein großer See, auf den ein Steg hinaus führt.
Oft sitze ich dort, halte die Füße ins Wasser und denke nach.
Ein weiter Raum für Gedanken.
Hier kann ich ich selber sein, ohne Einschränkung denken.
Oft streife ich durch die Wälder, beobachte die Tiere,
nehme die Pflanzen, das Laub, die gute Luft wahr.
Oft sitze ich abends vor einem kleinen Feuer,
in eine Decke eingehüllt und beobachte die Flammen.
Wie sie tänzeln, Wärme und Licht spenden.
Die wahre Freiheit liegt in der Einsamkeit.
Doch bin ich in eurer Welt,
liege da, kann nur die Augen bewegen.
Ich bin gefangen in der realen Welt
gefangen im eigenen Körper.
Nun, da sitzt er
in einem Restaurant.
Zusammen mit anderen Bekannten.
Es wird über alles Mögliche gequatscht – gelästert – gelacht.
Irgendwie wird er abgehängt.
Wie jemand, der dem abfahrenden Zug hinterher schaut.
Nicht an Bord ist – abgeschottet von den Reisenden. (more…)
U-Bahn Duft
Ein Gedicht von Jannik Roßmann
U-Bahn Duft
Warme, trockene Luft
Wind
Helles, grelles Licht
Tief unter der Flur, Beton-Röhre
„Bahn fährt ein, Vorsicht am Gleis!“ – hallt es
Wildes Getöse an- und abfahrender Züge (more…)
Das Gedicht
U-Bahn Duft von Jannik Rossmann
U-Bahn Duft
Warme, trockene Luft
Wind
Helles, grelles Licht
Tief unter der Flur, Beton-Röhre
„Bahn fährt ein, Vorsicht am Gleis!“ – hallt es
Wildes Getöse an- und abfahrender Züge (more…)
Das Gedicht
Irgendwann von Jannik Rossmann
Irgendwann werde ich gehen
an einen völlig fremden Ort
wo alles neu, wo alles anders ist
wo du niemanden kennst und du selbst nicht erkannt wirst
an einen Ort, der warm ist
wo man mit den Händlern noch feilschen kann
wo man immer ein freundliches Lächeln findet
wo ein ganzes Jahr Sommer ist
wo das Meer rauscht
wo eine leichte, wohltuende Brise über die Küste streicht
dort, wo die Sonne abends im Wasser versinkt
der Mond in den Bergen aufgeht
und du einfach nur abschalten kannst (more…)
Aus dem Block …
Der Fremde
gesprochen von Ulrich Matthes
Meursault eine Stimme geben? Wer könnte das besser als Ulrich Matthes. Nach meiner Camus-Lektüre in den vergangenen Wochen, habe ich mir „Der Fremde“, gesprochen von Ulrich Matthes, angehört. Bei Hörbüchern bin ich sehr zurückhaltend. Ich mag einige sehr bekannte deutsche Hörbuchsprecher überhaupt nicht. Zu einer Stimme, auf die ich mich stundenlang einlasse, habe ich eine besondere Beziehung. Das muss passen. Das ist nicht zu begründen. Das ist eine Bauchentscheidung. Matthes passt.
Seiner Stimme kann ich zuhören, auf dem Sofa, auf einem Spaziergang, auf dem überfüllten Bahnsteig. Ich verliere nicht den Faden, wie es mir bei anderen häufig passiert. Er hält mich immer im Stück.
Camus´ Werke zu sprechen, insbesondere den Fremden, Meursault, ist eine besondere Herausforderung. Ulrich Matthes hält sich zurück, gibt dem Text genau die lakonische Stimmung, die er braucht. Gleichzeitig wirkt die Stimme in den Detailbetonungen nie monoton. Es entstehen Bilder beim Hören, wie sie mir selbst beim Lesen nicht gekommen waren, obwohl ich bei der Lektüre viel mehr Zeit hatte. Rhythmus, Tempo, Pause, das alles wird wunderbar in eine Stimme gebracht, wie ich sie mir für Meursault vorstelle. Diese Stimme bleibt in meinem Kopf. Dank des Autors, dank des Sprechers.
mh
24.08.1922 – Tucholsky vor einhundert Jahren
„Wir sind fünf Finger an einer Hand“, schreibt Kurt Tucholsky in einem Artikel der Weltbühne 1922. Die fünf aus dem Zitat, das sind Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Kurt Tucholsky selbst. Tucholsky ist eigentlich kein Pseudonym, aber unter all diesen Namen veröffentlichte er in den verschiedenen Zeitungen. Und der Name Tucholsky trollte sich eben wie ein solches im Reigen der anderen Pseudonyme. Zusammen hatten sie die Schlagkraft, die der 1890 in Berlin geborenen Tucholsky aufbringen musste, um gegen die Missstände in der jungen Weimarer Republik anzuschreiben, für die Freiheit und für die Demokratie. „Wir alle Fünf lieben die Demokratie.“
Wir alle Fünf von Kurt Tucholsky
Die rechtsstehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als »den vielnamigen Herrn« hinzustellen, »der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt«. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma.
Aber wir stammen alle Fünf von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm.
Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte Original-Deutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offiziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereit halten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste Kavallerie-Wachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, dass man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den ›gemeinen Mann‹ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Kommis.
Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht ›gleich‹ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest.
Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf.
Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, dass es schallt, und dass die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke.
Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.