Michael Helm

Ein Gedicht …

Kurt Tucholsky veröffentlichte das folgende Gedicht 1930 unter dem Pseudonym Theobald Tiger in der „Arbeiter Illustrierte Zeitung“. Tucholsky wurde 1890 in Berlin geboren und starb 1935 in Göteborg im Exil. Er war die warnende Stimme der Weimarer Republik; ein hellsichtiger Geist, der in seinen Veröffentlichungen benannte, was auf Deutschland in den Dreißigern zukam. 

Augen in der Großstadt
von Theobald Tiger

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück …
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hasts gefunden,
nur für Sekunden …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück …
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

Ein Gedicht

Es scheint die Sonne, es ist angenehm warm.
Auch die Nächte sind nicht zu kalt.
Stille, man hört lediglich die Vögel, den Wind.
Ich bin für mich allein, schaue in die Ferne,
weit und breit nur Berge und Wälder.
Am Fuße des Hügels, auf dem ich in einem kleinen Häuschen lebe,
liegt ein großer See, auf den ein Steg hinaus führt.
Oft sitze ich dort, halte die Füße ins Wasser und denke nach.
Ein weiter Raum für Gedanken.
Hier kann ich ich selber sein, ohne Einschränkung denken.
Oft streife ich durch die Wälder, beobachte die Tiere,
nehme die Pflanzen, das Laub, die gute Luft wahr.
Oft sitze ich abends vor einem kleinen Feuer,
in eine Decke eingehüllt und beobachte die Flammen.
Wie sie tänzeln, Wärme und Licht spenden.
Die wahre Freiheit liegt in der Einsamkeit.

Doch bin ich in eurer Welt,
liege da, kann nur die Augen bewegen.
Ich bin gefangen in der realen Welt
gefangen im eigenen Körper.

jr (more…)

Rücklichter

Ein Gedicht von Jannik Roßmann

Nun, da sitzt er
in einem Restaurant.
Zusammen mit anderen Bekannten.
Es wird über alles Mögliche gequatscht – gelästert – gelacht.
Irgendwie wird er abgehängt.
Wie jemand, der dem abfahrenden Zug hinterher schaut.
Nicht an Bord ist – abgeschottet von den Reisenden. (more…)

U-Bahn Duft

Ein Gedicht von Jannik Roßmann

U-Bahn Duft
Warme, trockene Luft
Wind
Helles, grelles Licht
Tief unter der Flur, Beton-Röhre
„Bahn fährt ein, Vorsicht am Gleis!“ – hallt es
Wildes Getöse an- und abfahrender Züge (more…)

Das Gedicht

U-Bahn Duft
von Jannik Rossmann

U-Bahn Duft
Warme, trockene Luft
Wind
Helles, grelles Licht
Tief unter der Flur, Beton-Röhre
„Bahn fährt ein, Vorsicht am Gleis!“ – hallt es
Wildes Getöse an- und abfahrender Züge (more…)

Das Gedicht

Irgendwann
von Jannik Rossmann

Irgendwann werde ich gehen
an einen völlig fremden Ort
wo alles neu, wo alles anders ist
wo du niemanden kennst und du selbst nicht erkannt wirst
an einen Ort, der warm ist
wo man mit den Händlern noch feilschen kann
wo man immer ein freundliches Lächeln findet
wo ein ganzes Jahr Sommer ist
wo das Meer rauscht
wo eine leichte, wohltuende Brise über die Küste streicht
dort, wo die Sonne abends im Wasser versinkt
der Mond in den Bergen aufgeht
und du einfach nur abschalten kannst (more…)

Aus dem Block …

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.

Jon Fosse bekommt Literaturnobelpreis

Hier noch der Link zu einem älteren Beitrag.