Ein von mir sehr geschätzter Autor und Essayist mahnte einmal vor den Noise-Cancelling-Kopfhörern, wie sie im modernen Sprachgewirr gerne heißen. Es handelt sich um die Kopfhörer, die viele Außengeräusche ausfiltern und dem Hörer Stille und Ruhe schenken.
Meiner Formulierung entnehmen Sie, dass ich mich seiner Meinung ausnahmsweise nicht vollumfänglich anschließen möchte. Er beklagt, dass da Menschen herumlaufen, die für keine Form der Kommunikation mehr zugänglich sind. Sie stehen am Bahnhof, mitten im Gewühl, und bekommen gar nichts mehr mit. Es ist schwer, sie anzusprechen. Sie hören nicht. Sie sind abgewandt, gänzlich verinnerlicht. Sie reagieren nicht. Sie stehen nur da.
In den Worten des Autors sah ich mich selbst dort stehen. Alle Welt redet auf mich ein. Ich bekomme nichts mit. Starre und schweige. Doch, ein erschreckendes Bild. Aber!
In den letzten Jahrzehnten habe ich festgestellt, dass es mir immer schwerer fällt, das alles auszuhalten: stupide, sich widersprechende Durchsagen der Deutschen Bahn, der Lärm der permanenten Baustellen und Fahrzeuge aller Art, das permanente Gequassel der Menschen um mich herum. Lärm, Lärm, Lärm. Akustische Reizüberflutung überall.
Früher wohnten wir in einem kleinen Ort ziemlich ruhig. Heute arbeitet das Metallwerk in der Nähe fast vierundzwanzigstündig, der Steinbruch wurde erweitert, die Bundesstraße ist wegen des erheblich gewachsenen Autoverkehrs bis tief in die Nacht permanent hörbar und ihr unterschwelliges Rauschen ein andauernder Reiz. Und wenn dann endlich Ruhe einkehrt, stört fast nächtlich ein Raser unseren Schlaf, der um Punkt Elf den Motor zur Vergrößerung seines Egos aufheulen lässt und seine immer zu uns wiederkehrenden Runden zieht. Ich schweige hier von Laubbläsern, Motorsägen und anderen hübschen Geräten, von denen ich mir habe sagen lassen, dass viele von ihnen längst viel leiser produziert werden könnten, dass sich aber nur ihre lärmenden Geschwister gut verkaufen ließen. Was gut ist, muss brummen!
Ich konnte irgendwann nicht mehr. Unterwegs im Zug will ich hin und wieder ein wenig Ruhe haben oder noch etwas vorbereiten für den nächsten anstrengenden Termin. Ich gebe zu, schlecht abschalten zu können, wenn neben mir zwei geschäftliche Handygespräche gleichzeitig geführt werden, während sich die anderen über Bahnverspätungen und Umstiegsalternativen echauffieren. Kommt hinzu, der Deutsche neigt gerade im Zug dazu, ausgelassen über alles zu nörgeln und zu schimpfen.
Als ich einmal im ICE laut vernehmen ließ, ich führe aber gern mit der Bahn und wäre gestern pünktlich und entspannt überall angekommen, da verstummten alle Stimmen in meinem Umkreis, als hätte ich meine Noise-Cancelling-Kopfhörer aufgesetzt. Der spinnt doch! Pünktlich und entspannt? Auf welchem Planeten lebt denn der?
Aber zurück zum Thema. Ich kann das nicht mehr. Zugegeben, ich sehe nicht sonderlich kommunikativ aus. Aber meiner Sitznachbarin habe ich noch immer geholfen, wenn sie nicht mehr weiter wusste in der Bahn-App. Ich sah es ihren fragenden Augen an und reagierte. Aber muss ich jeden Quatsch über mich ergehen lassen, ohne dass andere einmal darüber nachdenken, wie laut sie gerade sind. Haben wir einmal darüber nachgedacht, wie hoch der Lärmpegel in unserem Alltag geworden ist? Ohhh … da will schon wieder einer neue Messungen, Grenzwerte und Verbote, schallt es mir gleich entgegen. Nein!
Ich will meine Ruhe, ab und an meine Ruhe! Es muss nicht immer ungefiltert alles auf mich einprasseln. Alternative: Ihr stellt eure Geräte zur Abwechslung einmal leiser. Ihr baut Staubsauger, die man kaum hört. Sie werden schon funktionieren, auch wenn man sie nicht hört. Und wie wäre es, wenn Motorradfahrer, die glauben, der Sound ihrer Maschine wäre unverzichtbar, sich selbst die Kopfhörer aufsetzten und den unerträglichen Lärm dort abspielten, zu ihrem alleinigen Ohrenschaden. Aber wenn sie wüssten, dass ich es nicht wahrnähme, dann hätte ihr Ego ja nichts davon. Schade.
Da ich den anfänglich erwähnten Essayisten aber so schätze, hier mein Vorschlag des Kompromisses. Wir Menschen bewegen uns in unsere Umwelt wieder ein bisschen leiser. Vielleicht denken wir beim nächsten Handytelefonat auch an die stillen Gesprächsteilnehmer links und rechts neben uns und verlassen gleich das Abteil. Ich will hier nicht wieder das unmögliche Wort „Achtsamkeit“ hören. Es ist so aufdringlich geworden wie ein Presslufthammer.
Dafür nehme ich meine Noise-Cancelling-Kopfhörer wieder ab, wenn mir Menschen am Bahnsteig gegenüberstehen oder ich durch die Fußgängerzone gehe. Dann sehe ich sicher wieder kommunikabler aus, freundlicher, eben wieder wie ein netter Mensch.
Ich will ja keine Verbote. Nur ein bisschen Ruhe. Geht! Weiß ich, wenn ich im „Ruheabteil“ der Deutschen Bahn fahre. Übrigens, wenn ich die Augen meines Gegenübers wegen der schwarzgetönten Brillengläser nicht sehen kann, ist das auch nicht gerade kommunikativ. Besonders nachts!
Ende einer Reise
Weimar – Berlin – Rheinsberg – Potsdam.
In Weimar fühle ich mich immer wie zu Hause. Weimar ist für mich kulturelle Erholung. Spaziergänge an der Ilm, Anregungen in den Geschichts- und Dichtermuseen, Pausen in den Kaffees. Berlin ist aufregend, hinter jeder Straßenkreuzung eine neue Erfahrung, ein neuer Gedanke, ein neues Bild. Theater, Kunstmuseen, Straßenevents. Menschen. Menschen. Menschen. Rheinsberg war eine neue Erfahrung. Abgeschieden, erholsam, aber etwas vom Schuss. Ein Tucholsky-Museum gehört nach Berlin. Der Mann hat mehr geschrieben, als Rheinsberg. Tucholsky hat sich eingemischt in die Angelegenheiten der jungen deutschen Republik, in die Berliner Angelegenheiten. Das geht uns gerade jetzt etwas an. Und Potsdam lebt von seinen Schlössern, auf die ich gern verzichten kann. Ja, ja, Architektur und Kunstgeschichte. Macht mal. Potsdam war für mich Filmabende und Filmmuseum, das Haus der Wannseekonferenz und das Holländische Viertel. Man ist zügig wieder im Theater in Berlin. Ich liebe Städte, aus denen man auch schnell einmal weg, das heißt ganz woanders ist. Nichts ist so schön, als sich wieder etwas Neues anzuschauen oder etwas Altes neu zu entdecken.
Potsdam – Ein Reiserückblick
Kino. Kino. Kino.
An drei Abenden ins Kino. Das haben wir lange nicht mehr gemacht. Thalia, das ist in Potsdam keine Muse, das ist auch keine Bücherkette, das ist in Babelsberg ein traditionsreiches Kino mit angeschlossener Wohlfühlbar. Drei Kinoabende: „Indiana Jones“ erinnerte mich an alte Hollywoodstreifen und solch ein Abend gehört irgendwie in einen Sommerurlaub. „Die Unschärferelation der Liebe“ mit Caroline Peters und Burghart Klaussner ist ein wunderbarer Film, dessen Geschichte wir in gleicher Besetzung schon auf den Bühnenbrettern in Düsseldorf gesehen hatten. Sehenswert. Und „Alma & Oskar“, über die tragische Liebesgeschichte Alma Mahlers mit Oskar Kokoschka, ließ sich auch gut anschauen.
Ja, und dann gibt’s natürlich den ganzen Tratsch über die Filmstadt Babelsberg. Den erfährt man selbstverständlich im Filmmuseum sehr schön aufbereitet. Von Fritz Lang bis Tarantino. Da fehlt einem nichts. Die Geschichte der Filmstudios vor und im Nationalsozialismus, in der DDR und bis heute.
Da habe ich mir vorgenommen, das alte Kino nicht länger so sträflich zu vernachlässigen, wie in den vergangenen Jahren.
Potsdam – Ein Reiserückblick
Ambivalenzen einer Reise.
Die Ausstellung im „Haus der Wannseekonferenz“ ist einfach gemacht, aber überzeugend. Klar strukturiert. Gut für Schüler*innen und Leute, die sich beginnen, mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Es gibt das Haus am Wannsee, mit idyllischer Aussicht, von dem man weiß, dass hier die Konferenz stattfand, in der die sogenannte „Endlösung“ besprochen wurde. Es gibt das Protokoll, verfasst in einem nüchternen Ton. Die Sachlichkeit des Mordes: Zahlen und bürokratische Formulierungen. Das Wort Mord kommt nicht vor. Das Schicksal von Menschen verschwindet zwischen den Zeilen.
Verärgert darüber, wie lange es gedauert hat, die Ausstellung dort einzurichten. Ein Überlebender musste sein ganzes Leben nach Auschwitz dafür kämpfen und hat die Ausstellungseröffnung nicht mehr erlebt.
Potsdam – Ein Reiserückblick
Das ist mein Potsdambild. Nicht wieder ein Luxusschloss. (Und Sanssouci ist noch schlimmer als das Schloss in Rheinsberg.) Nicht irgendwelche Sehenswürdigkeiten, die auf der städtischen Internetseite gelistet stehen. Nichts Kulinarisches, nichts Historisches. Das Bild hat seine eigene kleine Geschichte. Das Motiv lag uns zu Füßen im Schlosspark zu Sanssouci, abseits der Statuen und opulenten Gartenanlagen. Am Tag vorher waren wir im Museum Barberini gewesen und hatten uns von den Seerosen Monets kaum trennen können. Und dann dieser Blick …
Rheinsberg – Eine Reiserückblick
Ich bin nach Rheinsberg gekommen wegen des „kleinen Büchleins“. Da ist man nicht immer gerecht mit den Menschen, die heute in diesem landschaftlich bezaubernd liegenden Ort leben. Wenn mich manche Personen im Schlossmuseum auch sehr an jenen Kastellan im Büchlein erinnerten, wenn mir ein Buchhändler auch durch Übellaunigkeit und seinen Unwillen, über Tucho zu reden, auffiel – was sicher mehr an mir, als an Tucholsky lag – so gibt es in Rheinsberg doch viele nette Menschen.
Das Café Tucholsky war für uns da und es gab dort richtigen Tee. Wunderbar. Im Ratskeller haben wir gerne gespeist und mit den Leuten ein wenig geplauscht. Und Eisessen konnte man in Rheinsberg bei den tropischen Temperaturen auch genüsslich. Wandern in der Mark Brandenburg? Bei der Hitze schwierig. Und wenn es so heiß wird, wie in den vergangenen Sommern, dann hält man es ja auch im Schloss aus.
Reiserückblicke
Auf den Block hatte ich lange nichts gekritzelt. Obwohl mein analoger Block, noch mehr der geistige, voller Ideen ist. Die Zeiten sind unruhig.
Ich will gar nichts versprechen, aber jetzt geht es auch auf meinem digitalen Block erst einmal weiter, mit ein paar sehr frischen Eindrücken meiner letzten Reise nach Weimar, Berlin, Rheinsberg und Potsdam.
Können Sie dort nachlesen auf dem Block.
Ein gutes Neues!
Ich wünsche allen ein gutes, gesundes und erfolgreiches neues Jahr 2023.
Trotz manches Ungemachs, packen wir es an! Auf ein Neues!
Mit einer guten Nachricht kann ich gleich beginnen. Wir planen in Herdecke wieder Lesungen für dieses Jahr. Darauf freue ich mich besonders. Viele Schulprojekte laufen weiter, so in Hiddenhausen, Bünde und auch am Königin Mathilde Gymnasium in Herford. Außerdem gibt es wieder einige spannende Lesungen in der Stadtbücherei in Spenge. Die Herforder AutorInnen schlafen im Übrigen auch nicht.
Dazu und mehr hier auf der Webseite.
Ich freue mich auf Ihren Besuch.
Ihr Michael Helm
24.08.1922 – Tucholsky vor einhundert Jahren
„Wir sind fünf Finger an einer Hand“, schreibt Kurt Tucholsky in einem Artikel der Weltbühne 1922. Die fünf aus dem Zitat, das sind Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Kurt Tucholsky selbst. Tucholsky ist eigentlich kein Pseudonym, aber unter all diesen Namen veröffentlichte er in den verschiedenen Zeitungen. Und der Name Tucholsky trollte sich eben wie ein solches im Reigen der anderen Pseudonyme. Zusammen hatten sie die Schlagkraft, die der 1890 in Berlin geborenen Tucholsky aufbringen musste, um gegen die Missstände in der jungen Weimarer Republik anzuschreiben, für die Freiheit und für die Demokratie. „Wir alle Fünf lieben die Demokratie.“
Wir alle Fünf von Kurt Tucholsky
Die rechtsstehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als »den vielnamigen Herrn« hinzustellen, »der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt«. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma.
Aber wir stammen alle Fünf von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm.
Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte Original-Deutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offiziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereit halten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste Kavallerie-Wachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, dass man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den ›gemeinen Mann‹ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Kommis.
Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht ›gleich‹ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest.
Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf.
Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, dass es schallt, und dass die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke.
Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.
Kurt Tucholsky Die Weltbühne vom 24.08.1922
Das Missverständnis
Von Albert Camus
Jan kehrt zurück. Vor sehr vielen Jahren hat er seine Mutter und die Schwester Martha verlassen und ist fortgegangen. Er hat sich am Meer ein besseres Leben aufgebaut, hat geheiratet, ist wohlhabend, aber nicht glücklich geworden. Er kehrt zurück. An seiner Seite Maria, seine Ehefrau. Jan sucht nach der alten Heimat, weiß nicht, ob er von den beiden wiedererkannt werden wird. Er möchte gesehen, erkannt und geliebt werden.
Also macht Jan die Probe und gibt sich als fremder Gast aus, der in der kleinen Pension der beiden Frauen ein Zimmer sucht. Was er nicht weiß: Seit Jahren überfallen die beiden in ihrer Not einsame, wohlhabende Gäste und lassen die Leichen im Fluss verschwinden. Was Martha und die Mutter nicht wissen: Dass ihrem nächsten Verbrechen der Bruder, der eigene Sohn, zum Opfer fallen wird. Ein Missverständnis. Eine Tragödie. Camus macht aus diesem Stoff sein zweites Theaterstück nach Caligula (1938).
Es geht um die Wahrheit, die sich die Protagonisten gegenseitig vorenthalten. Jan verschweigt, wer er ist. Verschweigt seine Motive, spielt ein Spiel, das tragisch endet. Seine Frau Maria warnt ihn, mahnt zur schlichten, gerade heraus gesprochenen Ehrlichkeit. Jan schlägt den Rat aus und schickt Maria fort.
In den Gesprächen der Mutter mit dem fremden Sohn und denen Marthas mit dem unerkannten Bruder schwingt immer die Doppeldeutigkeit ihrer Worte. Sie erkennen einander nicht, obwohl die Möglichkeit des Verstehens in jedem Satz mitschwingt. Das Spiel der Unehrlichkeit nimmt seinen tragischen Lauf. Am Ende bleibt der Mensch einsam und steht seinem nüchternen Leben gegenüber. Hilfe, gar Rettung gibt es nicht. Der alte Knecht, der während des ganzen Stückes auftritt und fast jede Szene in schweigender Kälte begleitet, wird zum Schluss ein einziges Mal sprechen. Ein einziges hoffnungsloses Wort.
Das Theaterstück „Das Missverständnis“, das Camus 1943 geschrieben hat, wurde ein Jahr später von ihm uraufgeführt. Es erinnert stark an eine Szene im Roman „Der Fremde“. Der verhaftete Meursault liest in seiner Zelle immer wieder einen Zeitungsausschnitt in dem die Geschichte dieses „Missverständnisses“ berichtet wird. Beide Werke sind also nicht nur zeitlich eng miteinander verknüpft. Der Fremde ist 1942 erschienen und war Camus´ erster großer Erfolg.
In beiden Werken finden sich die Figuren in ein absurdes Leben gestellt, aus dem sie in all ihrer Tragik nicht entrinnen können. Im „Missverständnis“ bliebe allein die Ehrlichkeit im Umgang miteinander. Da sich die Menschen im Stück — die sich eigentlich einander nahe fühlen müssten — nicht ehrlich begegnen, gibt es kein Miteinander, gibt es keinen Ausweg. Statt der Gemeinsamkeit bleibt nur die Einsamkeit und letztlich der Tod.
Das menschliche Drama des Stückes ist es, sich gegenseitig zu verkennen, weil sich der Einzelne vor den anderen verstellt, sein Selbst verschleiert. Jan möchte von der Mutter und der Schwester gesehen, erkannt und geliebt werden. Doch der Sohn und Bruder wird nicht gesehen. Er wird verkannt und ermordet.
„Das Missverständnis“ wurde von Hinrich Schmidt-Henkel neu übersetzt und ist 2013 bei Rowohlt in einer aktuellen Ausgabe sämtlicher Dramen erschienen.
mh
Albert Camus Sämtliche Dramen Rowohlt, 2013, Hardcover ISBN 978 3 498 00942 7
Aus dem Block …
Klassik trifft Rock, schon wieder?
Diese Frage könnte man sich stellen. Rock, Hard Rock, Pop, viele Musiker*innen haben mittlerweile mit bekannten Orchestern zusammen gespielt, live. Die Aufnahmen gab es dann auf CD oder auf allen anderen Kanälen zu hören. Die Ergebnisse waren sehr unterschiedlich. Mit einer Ausnahme, nämlich bei Metallica, fand ich sie nicht unbedingt beeindruckend.
Bei New Model Army ist das etwas anderes. Sie spielten mit Sinfonia Leipzig zusammen. In Leipzig fand das Konzert auch statt. Jetzt kann man die Aufnahme als „Platte“ hören. Ich bin begeistert.
Es bleibt der Sound der Band, das finde ich wichtig. Oft nimmt sich das Orchester angenehm zurück, um dann im Detail wunderbare Klangbilder zu schaffen, die das Stück tragen, begleiten oder ihm eine kleine Nuance verleihen, die ich vorher nicht entdeckt hatte. Es sind Stellen, in denen das Orchester Passagen der Songs mit klassischen Mitteln interpretiert, als wären die Stücke dafür geschrieben. Da wird nicht gezaubert, da produziert sich niemand vor dem anderen. Die New Model Army-Songs, ob alt oder jung, geben auch orchestriert ein unglaublich stimmiges Bild ab. Auch wenn die zwei musikalische Welten sehr weit voneinander entfernt zu liegen schienen. Das gilt nicht nur für die langsameren sondern auch für die Hochtempostücke. Aus zwei musikalischen Welten wird eine einzige.
Das hätte ich gerade bei dieser Gruppe, die ich seit Jahrzehnten gerne höre, nicht unbedingt gedacht. Vielleicht war das ein Fehler, denn diese besondere Art die Songs zu spielen, scheint durchaus in der Musik New Model Armys angelegt zu sein. Schön, wenn man trotz anfänglicher Skepsis so angenehm überrascht wird.
Auftrittsimpressionen
Hier einige Impressionen unseres Auftritts am 09. September 2023:
Die Vorlesewerkstatt war ein Projekt der Aktion „Herford liest ein Buch“, initiiert und organisiert vom Förderverein der Stadtbibliothek Herford, Buch.Bar.
hinten: Michael Helm | Lennard Haubrich | Jan-Hendrik Lobstein | Lennert Waletzko vorne: Maximilian Holtkamp | Anabel Koop | Emily Pautz | Maliha Ahmed
Sechs Wochen hatten die Jugendlichen aller Herforder Schulen an Texten zum Erwachsenwerden in den 1980ern und den 2020ern gearbeitet, ein Coming Of Age zweier Jahrzehnte. Die Lesung war unsere Abschlussveranstaltung in der Stadtbibliothek Herford.