Michael Helm

Gespräch mit einer Gans

Aufgelesenes III

Ich machte heute Morgen meine kleine Runde am See. Außer mir war niemand unterwegs. Selbst in Corona-Zeiten und in der frühen Morgenstunde eine ungewöhnliche Stille. Es ist eine kleine Ewigkeit her, dass ich gelernt hatte, Vogelstimmen zu erkennen, doch plötzlich — hier in der Ruhe — hörte ich sie wieder und kramte in meinen verklungen geglaubten Hör-Erinnerungen.

Da kam ich an einigen Gänsen vorbei und sprach anstatt eines fröhlichen Guten Morgens:  „Na, ihr Lieben, habt ihr die Welt einmal nur für euch allein?“

Eine Gänsedame drehte den Kopf und erwiderte: „Hältst du das hier für eine Welt?“ 

Ich hatte nicht geahnt, dass meine Kenntnisse der Vogelstimmen so weit reichten und blieb stumm.

„Wir sind erst kürzlich aus Afrika zurückgekehrt. — Es ist hier bei euch ein schönes, aber doch bescheidenes Fleckchen Erde,“ sagte sie und ich ahnte bereits, worum es ihr ging. „Doch gemessen an der Welt, die wir auf unserer Reise hierher überflogen haben?“ 

Ich konnte diesem philosophischen Gedanken nur beipflichten. Doch da mischte sich ein Erpel in unser Gespräch und rief etwas beleidigt: „Und wer gibt uns nun unser tägliches Brot?“

Die Gans hob nur ihren langen Hals und sagte: „Darum müsst ihr euch jetzt wohl selbst wieder kümmern.“ Sie wandte sich ab und ließ uns stehen.

Mit dem aufdringlichen Erpel wollte ich nicht länger reden und setzte meinen Spaziergang fort. Ob es nicht von Vorteil wäre, dachte ich, solch philosophischen Disput des Öfteren zu führen?

mh

Aus dem Block …

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.

Jon Fosse bekommt Literaturnobelpreis

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