Michael Helm

Shakespeare & Comp. und die Erstveröffentlichung des Ulysses

Ein Beitrag zum heutigen Bloomsday

„Ich stand auf dem Bahnsteig, mein Herz ratterte wie die Lokomotive, als der Zug aus Dijon langsam anhielt und ich sah, wie der Schaffner mit einem Paket in der Hand ausstieg und sich nach jemandem umsah – nach mir. Ein paar Minuten später läutete ich an der Tür der Joyces und übergab ihnen Exemplar Nr. 1 des Ulysses, genau am 2. Februar 1922.“ (1) (Sylvia Beach)

So beschreibt Silvia Beach selbst die Situation, wie sie James Joyce, dem Autoren des Ulysses, das erste Exemplar seines Buches, frisch aus dem Druck gekommen, an seinem eigenen Geburtstag überreichen kann. Die erste Auflage des Ulysses war in Dijon von Darantière gedruckt worden. Um Joyce am 2. Februar zu überraschen waren in vielen hektischen Nachtschichten die ersten beiden Exemplare eiligst entstanden und nach Paris ausgeliefert worden, wo sie Sylvia Beach, die erste Ulysses-Verlegerin am Bahnhof abholte. Joyce antwortete Beach in einem Brief: 

„Ich kann den heutigen Tag nicht vorbeigehen lassen, ohne Ihnen für alle Plage zu danken und für all die Mühe, die Sie im letzten Jahr auf mein Buch verwendet haben.“ (2) (James Joyce)

Seine Dankesworte deuten an, dass es bis zur Veröffentlichung dieses epochalen Werkes, wie es uns heute in der modernen Literatur entgegenkommt, ein sehr langer Weg war. Was rückblickend für uns einem heutigen Weltautoren wie James Joyce doch ganz leicht gewesen sein müsste – nämlich den Ulysses zu veröffentlichen – stellt sich als das ganze Gegenteil dar. Diesen „empörenden Bericht über eine ekelhafte Phase zivilisierten Lebens,“ (3) wie Bernard Shaw darüber urteilte, zu veröffentlichen, kam selbst einer Odyssee gleich. 

James Joyce hatte seine finanziellen Rücklagen damit aufgebraucht, mit seiner Familie nach Paris überzusiedeln und eine angemessene Wohnung zu finden. So steht bereits die Entstehung des Buches unter einem finanziell schlechten Stern. John Quinn ein irisch-amerikanischer Rechtsanwalt in New York kaufte das Manuskript stückweise und half den Joyces jeweils mit einer kleinen Summe, die sie ein wenig weiterbrachte. Wenn Joyce ein Kapitel seines entstehenden Ulysses beendet hatte, schickte er die Reinschrift an Quinn in die Staaten und erhielt dafür die verabredete Summe. Doch ein Verleger fand sich weder in den Vereinigten Staaten, noch in Großbritannien oder anderswo. Verbote, die teils in diesen Ländern ausgesprochen wurden, machten eine reguläre Veröffentlichung nahezu unmöglich oder ließen bereits begonnene Projekte im Sande verlaufen, nachdem einige Vorveröffentlichungen durchaus vielversprechend gewesen waren. Der Hauptvorwurf: Teile des Werkes wären obszön und vulgär. 

Zu Hilfe kam eine kleine außergewöhnliche Buchhandlung, die sich gerade in Paris gegründet hatte: Shakespeare & Company. Die Gründerin war jene Sylvia Beach, die in ihrem Buchladen amerikanische und englischsprachige Literatur anbot. Besonderheiten in dem kleinen Pariser Laden, an der Rue Dupuytren, der später in die Rue de l´Odéon umzog, gab es viele: Über dem Eingang das Schild mit dem Konterfei des Namensgebers William Shakespeare, und in dem mit Büchern durchstandenen Laden Fotos von Walt Whitman und Edgar Allan Poe, Blakezeichnungen sowie Fotographien von Oscar Wilde.

Neben dem Buchverkauf bot Sylvia Beach auch Leihbücher an, was besonders finanzschwache Literaten wie Joyce in jener Zeit ausgiebig nutzten. Shakespeare & Company war also Buchhandel, Leihbücherei und Treffpunkt englischsprachiger, später gleichwohl französischer Literaten in einem. Hier verkehrten neben Joyce auch Gertrud Stein, Ezra Pound, André Gide, Hemingway und viele andere. Trotz der Tatsache, dass der Laden von Sylvia Beach zwar klein war und sich noch in der Gründungsphase befand, war es offensichtlich der ideale Startpunkt für ein Werk, das später erst zu Weltruhm gelangen würde. 

James Joyce
Ulysses
(Roman)
Übersetzt von Hans Wollschläger
Deutsche Ausgabe im Suhrkamp Verlag

Sylvia Beach und James Joyce arbeiteten eng zusammen, um die Überarbeitung und Veröffentlichung des Ulysses ohne eigentliche Verlagsstrukturen auf den Weg zu bringen. Sylvia Beach organisierte immer wieder Hilfen, wenn es darum ging, die fast unleserlichen Manuskriptseiten abzutippen, warb Subskribenten, organisierte von Paris aus den Druck in Dijon und versuchte ständig die nötigen finanziellen Mittel aufzutreiben. Nebenbei verkaufte sie Bücher, führte die Leihbücherei und stellte die nötigen Kontakte her, die Joyce vielleicht weiterhelfen konnten, organisierte Lesungen u.u.u.

Um die Subskribenten in den Staaten und Irland zu erreichen, mussten die späteren Exemplare regelrecht eingeschmuggelt werden, die gesamte Korrespondenz nicht allein von Joyce lief über Shakespeare & Company und wurde von dort weitergeleitet. Ein Marathon, bedenkt man die Rahmenbedingungen, unter denen diese Erstveröffentlichung stattfand. 

1922 war es dann letztlich soweit und das Buch erschien, für das heute und an jedem 16. Juni der Bloomsday in aller Welt begangen wird. Es ist der eine Tag an dem die Hauptfigur Leopold Bloom seine Odyssee durch Dublin begeht.

Wer weiß, was geschehen wäre, hätte es nicht die Ulyssesbegeisterung einer Sylvia Beach gegeben, das Durchhaltevermögen und den Willen, das damals so umstrittene literarische Werk herauszubringen. Vielleicht ein Beispiel, an dem sich unser Verlagssystem an so mancher Stelle mutiger orientieren könnte. 

mh


1 aus Sylvia Beach – Shakespeare and Company – Ein Buchladen in Paris / Suhrkamp 1982 / S. 97
2 aus Sylvia Beach – Shakespeare and Company – Ein Buchladen in Paris / Suhrkamp 1982 / S. 98
3 aus Sylvia Beach – Shakespeare and Company – Ein Buchladen in Paris / Suhrkamp 1982 / S. 62

Ein Tag im Leben Leopold Blooms

Der 16. Juni 1904 war ein besonderer Tag. Für James-Joyce-Begeisterte so besonders, dass sie ihn in der ganzen Welt jährlich feiern. Die einen ziehen sich schmökernd auf die Couch zurück und begleiten Leopold Bloom wieder ein Stück weit durch Dublin, Kapitel für Kapitel. Andere treffen sich und machen verrückte Dinge zusammen, die nur Eingeweihte wirklich lustig finden. Es gibt eben auch richtige Literaturgroupies. (more…)

Aus dem Block …

Auftrittsimpressionen

Hier einige Impressionen unseres Auftritts am 09. September 2023:

Die Vorlesewerkstatt war ein Projekt der Aktion „Herford liest ein Buch“, initiiert und organisiert vom Förderverein der Stadtbibliothek Herford, Buch.Bar.

hinten: Michael Helm | Lennard Haubrich | Jan-Hendrik Lobstein | Lennert Waletzko
vorne: Maximilian Holtkamp | Anabel Koop | Emily Pautz | Maliha Ahmed

Sechs Wochen hatten die Jugendlichen aller Herforder Schulen an Texten zum Erwachsenwerden in den 1980ern und den 2020ern gearbeitet, ein Coming Of Age zweier Jahrzehnte. Die Lesung war unsere Abschlussveranstaltung in der Stadtbibliothek Herford.

Hat Spaß gemacht. Danke an alle!

Die „Unschärferelation der Liebe“

Die Heisenbergsche Unschärferelation. Selten erlebe ich, dass ein physikalischer Satz zum Titel eines Films wird. Und ich mag diesen Film, den ich jetzt bereits zum zweiten Mal geschaut habe. „Die Unschärferelation der Liebe“ von Lars Kraume basiert auf dem Theaterstück von Simon Stephens.

Ich gehe erst in letzter Zeit wieder etwas öfter ins Kino. Das liegt ausnahmsweise einmal nicht am bösen C-Wort der letzten Jahre. Ich mag lieber das Theater, verbringe viel Zeit dort und wenig im Kinosaal. Caroline Peters und Burghart Klaußner sah ich daher vor Jahren im Düsseldorfer Schauspielhaus. Das Stück hieß Heisenberg. Das faszinierte mich mehrfach. Die beiden Bühnenakteure mag ich sehr, das wäre Grund genug gewesen. Aber Heisenberg?

Erinnerungen an mein Studium: Wenn man kleinste Teilchen genau beobachten möchte, verliert man sie aus dem Blick. Genauer, indem man sie beobachtet, verändern sie ihre Eigenschaften, die wir doch beobachten wollten. Das heißt, durch unsere Beobachtung verändern wir das, was wir beobachten möchten. Jedem kommt das als der „Beobachtereffekt“ bekannt vor. Wir können nicht als anwesender Beobachter keinen Einfluss auf die Situation nehmen. Schüler*innen und Referendar*innen spüren das übrigens sehr genau, wenn hinten in der Klasse eine Prüfungskommission sitzt, die den Unterricht beurteilen soll. Diese Menschen dort hinten sehen alles, nur keine realistische Unterrichtssituation. Nur weil sie anwesend sind.

Nun ist das auf der physikalischen Teilchenebene etwas … nun ja, infinitesimaler. Und Heisenberg hatte sicherlich keine Lehramtsprüfung im Kopf, als er seinen Satz von der Unschärferelation formulierte. Aber vielleicht dachte er schon einmal darüber nach, wie zwei Menschen einander betrachten, als wären es zwei Teilchen, die versuchten das jeweils andere näher zu bestimmen. Da wird Physik zur Philosophie. Da wird ein physikalischer Satz zum Filmtitel. Spannend.

Wie zwei Teilchen bewegen sich Alexander und Greta im Film umeinander. Zuerst will sie ihm nahe sein und bedrängt ihn. Sie redet und redet, flunkert und brilliert mit ihren Geschichten. Witziger als Caroline Peters kann man das nicht darstellen. Es lohnt sich aber, hin und wieder, den Blick von ihrer sprühenden Art zu Spielen abzuwenden und Burghart Klaußner zu beobachten. Zuerst ein Fels in der Brandung, in dem Versuch unbewegt zu sein. Als über Siebzigjähriger bringt einen eine junge Frau doch nicht mehr aus der Bahn, oder? Wie sich Alexander mehr und mehr von ihr berühren lässt: Sie ist da, sie lässt ihn nicht mehr los. Er kann nicht unbeeindruckt sein. Das spielen die beiden Akteure wunderbar aus.

Zwei sehr unterschiedliche Menschen begegnen sich, versuchen, einander nahe zu sein. Sind, wie sie sind. Sind im Augenblick schon ein Teil der Situation, die durch den anderen mitbestimmt wird. Braucht es eigentlich auf der Bühne noch mehr? Oder im Film, wo man ihren Gesichtern, ihren Augen so nahe zu kommen glaubt, wie sonst nie. Was sehen wir in diesen beiden Augenpaaren?

Das ist das faszinierende an dem Film. Ich würde ihn noch einmal schauen und wieder etwas ganz anderes betrachten. Wir können nicht unbeeinflusst schauen, vor allem nicht, wenn Burghart Klaußner und Caroline Peters uns, gleich einem physikalischen Teilchen, aus der Bahn werfen.