Michael Helm

Todesvariationen von Jon Fosse

Ein Rückblick. Damals gefasste Gedanken zu einer Inszenierung von Matthias Hartmann, die ich im Bochumer Schauspielhaus 2005 gesehen habe.

In aller Kargheit präsentiert sich die Inszenierung der Todesvariationen von Jon Fosse am Schauspielhaus Bochum in der Regie von Matthias Hartmann. Gewissermaßen eine Abschiedsinszenierung, denn Hartmann wird Bochum als Intendant im Sommer in Richtung Zürich verlassen. Und Jon Fosse war einer jener besonderen Höhepunkte, die Hartmann neben den Stücken von Neil LaBute oder Botho Strauss während seiner Bochumer Zeit zu setzen wusste. Todesvariationen ist die dritte Inszenierung zum norwegischen Prosa- und Bühnenautor Jon Fosse. Matthias Hartmann inszenierte bereits Winter und Dieter Giesing das Stück Schönes in den Kammerspielen.

Ein leerer weißer Raum, in dem verloren ein einziger weißer Hocker steht. Vor der Bühne, in der ersten Reihe des Zuschauerraums, eine Mastspitze wie an einem einsamen Hafenbecken, die gleichmäßig im Wind bewegt, wie ein Metronom das Geschehen auf der Bühne begleitet. Vergänglichkeit und Wiederkehr. Das ist alles.

Auch die Lichttechnik beschränkt sich auf das Einfache und bringt damit zur Geltung, was nicht gesprochen oder gespielt werden kann. Da ist ein einziger weißer Scheinwerfer, der unmerklich während der Inszenierung vom linken Bühnenrand zum rechten wandert. Er wirft die Schatten der Personen auf den Bühnenhintergrund. Sie zeichnen sich mal größer, dann wieder kleiner ab, je nach Position der Akteure im leeren Raum. Manchmal scheinen die Schatten die Figuren sogar zu verschlucken. Die Veränderung geschieht fast unmerklich und ist dennoch präsent. Das wiederholt sich, wenn der Scheinwerfer am Ende einer Szene – während eines Standbildes – an den linken Bühnenrand zurückfährt und sich alles – von dort beleuchtet – erneut schattenhaft vollzieht. Die Zeit ist ein zentrales Element des Stückes, in der Gestaltung der Bühne (Karl-Ernst Herrmann) ebenso, wie im Licht und in der Sprache.

Mit wenigen Mitteln wird die Leere des Fossestückes getragen, das sechs Akteure auf diese Bühne bringen. Die Dialoge sind minimalistisch kurz, die Bewegungen zurückgenommen und auch die Handlung ist schnell erzählt.

Eine junge Frau hat sich das Leben genommen, ihre Eltern verzweifeln bei dem Versuch, dies zu erfassen. Sie blicken zurück auf ihr Leben, ihre Ehe, die Geburt der Tochter, ihre Entzweiung, die Trennung, auf Schmerz und Abschied.

Links stehen während der ganzen Zeit fast unbewegt Der alte Mann und Die Alte Frau, zwei namenlose Menschen, gespielt von Hans-Michael Rehberg und Barbara Nüsse. Rechts spielt sich Vergangenes ab: das Paar in jungen Jahren (Sabine Haupt und Patrick Heyn), die Tochter (Cathérine Seifert) und ein merkwürdiger Freund, der die Tochter umgibt, sich ihr nähert, sich wieder entfernt und sie im Moment des Todes unwiderruflich und für immer in seine Arme schließt. Die Personifizierung des Unaussprechlichen, des Todes.

Im Stück verschwimmen die Zeiten, wird Vergangenes gegenwärtig und umgekehrt. Beeindruckend entsteht hier räumlich, wie sich eine Generation in der nächsten abbildet, sich Eingefahrenes wiederholt, sich Auswegloses mechanisch und unerbittlich wieder von neuem abspielt.

Wiederholungen und Pausen sind auch im aktuellen Stück von Jon Fosse stilbildende Elemente seiner Sprache. Sätze werden abgebrochen und verharren im Unausgesprochenen, immer die gleichen Fragen Was ist?, immer die gleichen Antworten nichts. Immer und immer wieder. Ausdrücke, die eine gebräuchliche Sprache auf Inhaltslosigkeit zu reduzieren scheinen. Sprache, die in den ständigen Pausen verstummt. Das ist das Eigentümliche bei Fosse: Seine Stücke gleichen einer Partitur, die auf den Rhythmus der Worte, auf die Länge der Pausen genauso viel Wert legt, wie auf die Noten selbst. Was die Schauspieler auf der Bühne in wenigen Gesten andeuten, bereitet vor, was sich in der Pause, im Unausgesprochenen entwickelt.

Wenn das so ausgezeichnet dramatisiert und gespielt wird wie in Bochum, dann wird die Sprachlosigkeit zum Inhalt, dann wird die Pause zum tragenden Element der Inszenierung. Aus ihr heraus entsteht die eigentliche Bedeutung des Stückes. Hier hat Fosses Stil viel mehr Verwandtschaft mit dem Becketts, als in dem immer wieder zitierten Vergleich mit Ibsen zum Ausdruck käme.

Das, was zwischen den Worten liegt, was die Menschen in ihrer Leere und Einsamkeit nicht zu sagen vermögen, dringt aus der kargen Situation in aller Klarheit hervor. Das Unsichtbare wird einen Moment lang sichtbar. Fosses Stücke sind musikalisch-sprachliche Verdichtungen, eine „Dramatik des Unhörbaren“.

Aus dem Block …

vorbei

ich kann sie drehen und wenden
ich finde meine komfortable ansicht
der dinge nicht wieder

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.