Michael Helm

Rheinsberg – Eine Reiserückblick

Ich bin nach Rheinsberg gekommen wegen des „kleinen Büchleins“. Da ist man nicht immer gerecht mit den Menschen, die heute in diesem landschaftlich bezaubernd liegenden Ort leben. Wenn mich manche Personen im Schlossmuseum auch sehr an jenen Kastellan im Büchlein erinnerten, wenn mir ein Buchhändler auch durch Übellaunigkeit und seinen Unwillen, über Tucho zu reden, auffiel – was sicher mehr an mir, als an Tucholsky lag – so gibt es in Rheinsberg doch viele nette Menschen.

Das Café Tucholsky war für uns da und es gab dort richtigen Tee. Wunderbar. Im Ratskeller haben wir gerne gespeist und mit den Leuten ein wenig geplauscht. Und Eisessen konnte man in Rheinsberg bei den tropischen Temperaturen auch genüsslich. Wandern in der Mark Brandenburg? Bei der Hitze schwierig. Und wenn es so heiß wird, wie in den vergangenen Sommern, dann hält man es ja auch im Schloss aus.

Kurt Tucholsky – Rheinsberg

„Rheinsberg – Ein Bilderbuch für Verliebte“. Eine kleine Reisegeschichte. Eine kleine Liebesgeschichte. Eine kleine Sommergeschichte. Ein kleines Büchlein. Und weil es immer klein ist, könnte man denken, es sei nichts Großes. Klein heißt aber eigentlich, dass es in einer Bescheidenheit und Vergnügtheit daherkommt, die ihresgleichen sucht. Typisch Tucholsky ist der Witz mit dem der Autor gern in Worten spielt, in diesem Büchlein sogar zaubert. Das Spiel mit den Dialekten, mit kindlichen Sprachspielereien macht es so vergnüglich, so leicht.

Und doch sind da die kritischen Untertöne, wenn Tucholsky seine Figuren genau beobachtet in ihren kleinen Schwächen. Der Kontrast zwischen dem Liebespaar Gambetta, das unverheiratet unter falschem Namen in den Kurzurlaub nach Rheinsberg (nördlich von Berlin) reist und den gesellschaftlichen Konventionen, die sich im Wesen des Schlosskastellans ausdrücken, ist von feinstem ironischem Humor. Es ist die Fallhöhe zwischen den alten Konventionen des Kaiserreichs, in dem Tucholsky aufwuchs, und den neuen, liberalen Vorstellungen, die nach dem Krieg in die Weimarer Republik führen werden. Eine freie Liebe, ein freierer Umgang zwischen den Geschlechtern, das wird für mich in den Neckereien zwischen Wölfchen und Claire spielerisch skizziert.

Das Buch erschien 1912. Der umgangssprachliche, aber intelligente Ton war bis dahin unüblich in der deutschen Literatur. Er fand aber großen Anklang. Ob es daran lag, das Tucholsky in seiner Berliner „Bücherbar“ zum Literaturkauf geistige Getränke anbot? Er schrieb selbst in der Weltbühne darüber schmunzelnd:

„Die Presse brachte sich um. Die ‚Breslauer Zeitung‘ war dagegen, die ‚Vossische‘ dafür, Prag und Riga verhielten sich neutral – die Ausschnitte sind noch da – und der ‚Sankt Petersburger Herold‘ vom achtzehnten Dezember 1912 schrieb, wer einen Wilde erstehe, der bekäme Whisky Soda, und wer Ibsen kaufte, einen nordischen Korn. Das stimmte aber nicht – wir tranken selber. Und verkauften schrecklich viele ‚Rheinsbergs‘.“

(Kurt Tucholsky, Die Weltbühne, 08.12.1921, Nr. 49)

Rheinsberg – Ein Reiserückblick

Rheinsberg liegt nördlich von Berlin. Redet man über Rheinsberg, erkennt man eine bestimmte Sorte Literaturliebhaber. „Ahh! – Ein Bilderbuch für Verliebte“, sagen diese Menschen. „Wo liegt Rheinsberg?“, fragen die anderen. Tucholsky-Liebhaber kennen Rheinsberg aus seinem Romanerstling mit dem schönen Titel: „Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte.“ Und genau deshalb verschlug es mich in diese kleine Stadt, in diese sehr kleine Stadt.

Tucholsky verbrachte hier einen Kurzurlaub, am Grienericksee. Für einen längeren Aufenthalt hätte es damals wie heute wohl nicht gereicht. Aber immerhin, die Landschaft ist wundervoll, für lange Wanderungen in die Mark Brandenburg. Ach und ja, auch Theodor Fontane war hier und hat natürlich über das Rheinsberger Schloss geschrieben. Aber mit Fontane wollte ich mich nicht befassen.

Was Tucholsky über das Rheinsberger Schloss geschrieben hat, ist eben typisch Tucholsky und nicht ohne seinen satirischen Unterton zu haben. Das ist herrlich vergnüglich, macht das Schloß aber nicht schöner. Das Schloß muss eben besichtigt werden, sagte schon Tucholsky. Ich habe jedoch das Vergnügen, es mit Tucholskys spöttischen Blicken zu besichtigen.

Prächtig, prachtvoll, wunderherrlich, werden sie anderswo lesen. Das ist auch nicht gelogen. Jeder hat seine Ansichten. Ich persönlich finde es jedoch aberwitzig, dass das einzige Tucholsky-Museum in Deutschland ausgerechnet in dem Luxuskasten untergebracht ist, den er so herrlich verulkt hat. Die einen grätzen nun: „Hat er verdient.“ Ich meine: „Hat das Schloß verdient.“ Und ich schmunzle darüber.

Aus dem Block …

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.

Jon Fosse bekommt Literaturnobelpreis

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