Michael Helm

Kaspars Gedankengang V

… noch einige Gedanken zu Dave von Raphaela Edelbauer. Es hat mich dazu inspiriert Das flüssige Land von ihr hervorzuholen und in Sichtweite zu legen. Mich interessiert, ob sich der Stil, den sie in Dave verwendet, dort wiederfindet. Ich mag Autoren, die ihren Stil dem Sujet anzupassen verstehen und sich nicht darum scheren, ob Verleger und Leser dann maulen …

… die Frage beantworten, ob Dave eine Utopie ist oder eine Dystopie … eindeutig eine letztere … den eigentlichen Clou des Romans kann ich nicht verraten, obwohl man schnell merken wird, dass mit dem Erzähler des Buches etwas nicht stimmt … mit der Sprache stimmt eigentlich alles, auch wenn ihr nicht immer leicht zu folgen ist, … aber Raphaela Edelbauer nimmt ihren Stoff ernst und das spiegelt sich auch in der Art, wie sie schreibt … einige Stellen sind philosophisch durchdrungen, was mir gut gefällt … man sollte sie dann mehrfach lesen und das Zurückblättern nicht scheuen … Thema, neben dem auf der Hand liegenden der künstlichen Intelligenz (KI) und einer Welt, die durch diese geprägt sein könnte, ist die Frage nach dem Bewusstsein, der Frage, ob eine KI sich bewusst werden könne … dabei kam mir an vielen Stellen wieder die Frage nach der Verantwortung des Schöpfers in den Sinn … das verbindet das Werk mit Büchern wie Frankenstein (Mary Wollstonecraft Shelley) aber auch Ishiguros Klara und die Sonne … 

… das Buch entwickelte für mich einen Sog, dem ich mich schlecht entziehen konnte, auch in schwierigeren Passagen … zum Ende hin forciert die Autorin ein sprachliches Feuerwerk, das einen am eigenen Verstand zweifeln lässt … man weiß nicht mehr, wer wer und wo er ist … gemäß des kartesischen Grundgedankens ist die Welt der Wahrnehmung eben keine sichere, festgefügte, keine objektiv betrachtbare … ist es aber das ICH? … Ist hier jemand, weil er denkt? … ich finde das wirklich gelungen … nochmal lesen! …

… ist das Buch ein Science Fiction? Immer mal wieder werde ich nach guter Horrorliteratur gefragt und dann gehen mir natürlich auch Buchempfehlungen wie E.A. Poe, Mary Wollstonecraft Shelley und Bram Stoker durch den Kopf. Ich würde mich ja zurückhalten, sie so zu nennen … sie sind mehr … Ist Dave also ein Science Fiction? All diese Werke sind viel größer, als das populäre Genre, in das man sie stopft. Gute Science Fiction – wenn wir sie so nennen wollen – ist mehr als das. Ishiguros Buch (Klara) würde ich gar nicht erst so nennen. Dave passt sicherlich in diesen Begriff, auch wenn es ihn sprengt. Es sind nicht die Szenen einer irgendwann stattfinden Zukunft … Es sind die Fragen, die wir uns heute stellen … die wir beantworten müssen … die besten Science Fiction-Romane sind Gegenwartsromane, die mit ihren Gedanken eine Zukunft anmahnen, die uns bevorsteht, wenn wir auf diese Fragen keine Antwort finden wollen oder können …

Kaspar Hauser

Kaspars Gedankengang III

… zurück zu dem Gedanken an Klara und die Sonne. Zurück zu Dave. Beide Bücher spielen mit Vorstellungen des Zukünftigen. Doch schreibt Ishiguro in Klara und die Sonne keinen Science Fiction. Das hatte er auch in Alles, was wir geben mussten schon nicht getan, selbst wenn er utopistische Sujets verwendet … 

… Klara ist eine Roboterin – überhaupt sind die Figuren fast ausschließlich weiblich. Da ist die Mangagerin, die Klara verkaufen will. Klara steht mit den anderen Robotermodellen im Geschäft, wenn alles gut läuft, wird sie gar im Schaufenster feilgeboten. Klara freut sich, die Sonne erreicht sie dort mit ihrer „lebensspenden“ Kraft besonders. Klaras Energiehaushalt wird über Solarzellen gespeist. Was hier banal klingt, entfaltet Ishiguro zu einer ungeahnten Idee im Buch … Ein Highlight des Romans …

… Klara freut sich, im Schaufenster zu stehen? Ja, sie freut sich. Sie beobachtet die Menschen auf der Straße, ist enttäuscht, … vielleicht sogar ein bisschen verärgert über die Maschine auf der Straße, die den Blick zur Sonne mit ihren Abgasen trübt … Eine Roboterin, die fühlt? … Klara soll wie alle anderen Modelle eine Begleiterin für Jungendliche sein, besonders ein emotionaler Halt auf dem Weg ins Erwachsenenleben. Dafür ist sie geschaffen worden … Ishiguro schafft keine intellektuell übermenschlich begabten Roboter, er schafft empfindungsfähige Kreaturen. Eine davon, Klara, erzählt uns ihre Geschichte. Und sie ist eine einzigartige Erzählerin in der Weltliteratur … Sie ist noch unerfahren, beobachtet den Menschen … und sie ist eine scharfe Beobachterin … macht sich ihre Gedanken … ihre Erfahrungen … lernt … ist mitfühlend … Ishiguro findet für sie einen Ton, der die gesamte Geschichte prägt … Klaras Sicht der Dinge … Ishiguro beschreibt einen zutiefst menschlichen Charakter, den wir uns nicht mehr als Maschine vorstellen können …

… ich assoziiere sofort den Weltklassiker von Mary Wollstonecraft Shelley, in dem die Verantwortung des menschlichen Schöpfers für sein „Geschöpf“ in den Blick genommen wird … Untertitel: Der moderne Prometheus.

… Ishiguro redet nicht von der Technik, den technischen Möglichkeiten. Solche Details sind ihm unwichtig. Er denkt sich und uns in eine Welt, die sich (technisch) verändert hat, in der seine Figuren, Menschen und menschliche Maschinen existieren müssen … und wie sie es tun … er fragt nach der Individualität und den „menschlichen“ Beziehungen untereinander …

… Wie anders ist Dave. Raphaela Edelbauer schreibt einen hochwertigen Science Fiction … Es wird eine andere Zeit erdacht, bis hinein in die computertechnischen Details und Herausforderungen, wie sie uns drohen könnte … gut recherchiert, sofern ich das beurteilen kann, ich bin kein it-Spezialist …

… Dave soll die erste Künstliche Intelligenz sein, die mit Höchstleistung an Rechnerkapazität ausgestattet, ein menschliches Bewusstsein bekommen soll … Wie bei Klara, soll die Maschine mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet werden, um den Menschen letztlich zu übertreffen. Nicht nur Syz, den Erzähler und Protagonisten, überkommen da im Laufe der Geschichte Zweifel … den haben die Leser*innen gleich auf den ersten Seiten, auf denen es zum Totalausfall des genialen Rechners zu kommen droht … 

Spannend geschrieben, gespannt harre ich auf Weiteres …

Kaspar Hauser

Aus dem Block …

Auftrittsimpressionen

Hier einige Impressionen unseres Auftritts am 09. September 2023:

Die Vorlesewerkstatt war ein Projekt der Aktion „Herford liest ein Buch“, initiiert und organisiert vom Förderverein der Stadtbibliothek Herford, Buch.Bar.

hinten: Michael Helm | Lennard Haubrich | Jan-Hendrik Lobstein | Lennert Waletzko
vorne: Maximilian Holtkamp | Anabel Koop | Emily Pautz | Maliha Ahmed

Sechs Wochen hatten die Jugendlichen aller Herforder Schulen an Texten zum Erwachsenwerden in den 1980ern und den 2020ern gearbeitet, ein Coming Of Age zweier Jahrzehnte. Die Lesung war unsere Abschlussveranstaltung in der Stadtbibliothek Herford.

Hat Spaß gemacht. Danke an alle!

Die „Unschärferelation der Liebe“

Die Heisenbergsche Unschärferelation. Selten erlebe ich, dass ein physikalischer Satz zum Titel eines Films wird. Und ich mag diesen Film, den ich jetzt bereits zum zweiten Mal geschaut habe. „Die Unschärferelation der Liebe“ von Lars Kraume basiert auf dem Theaterstück von Simon Stephens.

Ich gehe erst in letzter Zeit wieder etwas öfter ins Kino. Das liegt ausnahmsweise einmal nicht am bösen C-Wort der letzten Jahre. Ich mag lieber das Theater, verbringe viel Zeit dort und wenig im Kinosaal. Caroline Peters und Burghart Klaußner sah ich daher vor Jahren im Düsseldorfer Schauspielhaus. Das Stück hieß Heisenberg. Das faszinierte mich mehrfach. Die beiden Bühnenakteure mag ich sehr, das wäre Grund genug gewesen. Aber Heisenberg?

Erinnerungen an mein Studium: Wenn man kleinste Teilchen genau beobachten möchte, verliert man sie aus dem Blick. Genauer, indem man sie beobachtet, verändern sie ihre Eigenschaften, die wir doch beobachten wollten. Das heißt, durch unsere Beobachtung verändern wir das, was wir beobachten möchten. Jedem kommt das als der „Beobachtereffekt“ bekannt vor. Wir können nicht als anwesender Beobachter keinen Einfluss auf die Situation nehmen. Schüler*innen und Referendar*innen spüren das übrigens sehr genau, wenn hinten in der Klasse eine Prüfungskommission sitzt, die den Unterricht beurteilen soll. Diese Menschen dort hinten sehen alles, nur keine realistische Unterrichtssituation. Nur weil sie anwesend sind.

Nun ist das auf der physikalischen Teilchenebene etwas … nun ja, infinitesimaler. Und Heisenberg hatte sicherlich keine Lehramtsprüfung im Kopf, als er seinen Satz von der Unschärferelation formulierte. Aber vielleicht dachte er schon einmal darüber nach, wie zwei Menschen einander betrachten, als wären es zwei Teilchen, die versuchten das jeweils andere näher zu bestimmen. Da wird Physik zur Philosophie. Da wird ein physikalischer Satz zum Filmtitel. Spannend.

Wie zwei Teilchen bewegen sich Alexander und Greta im Film umeinander. Zuerst will sie ihm nahe sein und bedrängt ihn. Sie redet und redet, flunkert und brilliert mit ihren Geschichten. Witziger als Caroline Peters kann man das nicht darstellen. Es lohnt sich aber, hin und wieder, den Blick von ihrer sprühenden Art zu Spielen abzuwenden und Burghart Klaußner zu beobachten. Zuerst ein Fels in der Brandung, in dem Versuch unbewegt zu sein. Als über Siebzigjähriger bringt einen eine junge Frau doch nicht mehr aus der Bahn, oder? Wie sich Alexander mehr und mehr von ihr berühren lässt: Sie ist da, sie lässt ihn nicht mehr los. Er kann nicht unbeeindruckt sein. Das spielen die beiden Akteure wunderbar aus.

Zwei sehr unterschiedliche Menschen begegnen sich, versuchen, einander nahe zu sein. Sind, wie sie sind. Sind im Augenblick schon ein Teil der Situation, die durch den anderen mitbestimmt wird. Braucht es eigentlich auf der Bühne noch mehr? Oder im Film, wo man ihren Gesichtern, ihren Augen so nahe zu kommen glaubt, wie sonst nie. Was sehen wir in diesen beiden Augenpaaren?

Das ist das faszinierende an dem Film. Ich würde ihn noch einmal schauen und wieder etwas ganz anderes betrachten. Wir können nicht unbeeinflusst schauen, vor allem nicht, wenn Burghart Klaußner und Caroline Peters uns, gleich einem physikalischen Teilchen, aus der Bahn werfen.