Nach „Das kursiv gedachte Ich“ hat die Herforder AutorInnengruppe nun ihre zweite Anthologie veröffentlicht unter dem Titel „Rapunzelzeiten“, diesmal ein Potpourri der stilleren Sorte, der ruhigen Töne, durchbrochen von Satire und einer bildhaften Poesie, die in Augenblicken nach Perspektiven sucht.
Mit dem französischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler André Maurois kann gesagt werden, dass Kunst – und somit auch Literatur – das Bemühen sei, neben der wirklichen Welt eine menschlichere zu schaffen. Ausgehend von diesem Gedanken gestaltet die Herforder AutorInnen-Gruppe seit einem halben Jahrzehnt literarische Lesungen im Herforder Kreis, die sich nicht nur am ‚Schönen und Guten’, sondern auch an der sozialen Wirklichkeit orientieren und diese kritisch aufgreifen. Die Anthologie widmet sich daher dem Alltag, der Arbeitswelt, der Vergangenheit, überhaupt dem Spektrum an Gewohnheiten, aus dem heraus jede/r Einzelne eine Perspektive entwickelt. Das Leben besteht eigentlich aus „Rapunzelzeiten“, also aus dem Versuch, den Blick in die Zukunft zu richten und immer neu zu beginnen, das Beste aus den gegebenen Bedingungen zu machen.
In der bei ostbooks erschienene Anthologie versammeln sich namhafte AutorInnen aus dem Herforder Kreis zu einem literarischen Potpourri aus Prosa und Gedichten. Mit dabei ist Norbert Sahrhage, der bei seinen Kriminalromanen lokal-historische Begebenheiten mit kriminalistischer Erzählkunst verbindet und vor kurzem mit dem Heimatpreis des Kreises Herford geehrt wurde. Ebenfalls dabei ist der bekannte Rezitator und Autor Michael Helm, ausgezeichnet mit dem Bürgermedienpreis NRW.
Artur Rosenstern, Autor und Verleger, schreibt auf feinsinnige Weise darüber, wie der Mensch angesichts von Krieg und Gewalt sein Menschsein bewahrt, während sich der Bünder Autor Nicolas Broeggelwirth auf sensible Weise einem besonderen Menschen annähert („Das Lächeln“). Christine Zeides, ein Multitalent in Sachen Wortkunst und von Bünde nach Berlin umgezogen, widmet sich auf lyrische Weise Berliner Orten.
Die Lyrikerin und Romanautorin Petra Czernitzki überschreibt den Alltag mit scharfer Satire, die sich der Liebe („Die Amputation“) und dem „Corona-Blues“ annimmt. Und der von der Gesellschaft für neue Literatur zu einem „Erben Orwells“ ausgelobte Autor Ralf Burnicki präsentiert politische Gedichte gegen kalte Zeiten. Die Leserinnen und Leser erwartet ein kreatives und vielseitiges Literaturereignis, das zum Nachdenken anregt, aber auch unterhaltsam ist.
Herforder AutorInnen-Gruppe
„Rapunzelzeiten“
Anthologie 2022
ISBN 978-3-947270-15-6
10, – EUR
Aus dem Block …
Auftrittsimpressionen
Hier einige Impressionen unseres Auftritts am 09. September 2023:
Die Vorlesewerkstatt war ein Projekt der Aktion „Herford liest ein Buch“, initiiert und organisiert vom Förderverein der Stadtbibliothek Herford, Buch.Bar.
hinten: Michael Helm | Lennard Haubrich | Jan-Hendrik Lobstein | Lennert Waletzko vorne: Maximilian Holtkamp | Anabel Koop | Emily Pautz | Maliha Ahmed
Sechs Wochen hatten die Jugendlichen aller Herforder Schulen an Texten zum Erwachsenwerden in den 1980ern und den 2020ern gearbeitet, ein Coming Of Age zweier Jahrzehnte. Die Lesung war unsere Abschlussveranstaltung in der Stadtbibliothek Herford.
Hat Spaß gemacht. Danke an alle!
Die „Unschärferelation der Liebe“
Die Heisenbergsche Unschärferelation. Selten erlebe ich, dass ein physikalischer Satz zum Titel eines Films wird. Und ich mag diesen Film, den ich jetzt bereits zum zweiten Mal geschaut habe. „Die Unschärferelation der Liebe“ von Lars Kraume basiert auf dem Theaterstück von Simon Stephens.
Ich gehe erst in letzter Zeit wieder etwas öfter ins Kino. Das liegt ausnahmsweise einmal nicht am bösen C-Wort der letzten Jahre. Ich mag lieber das Theater, verbringe viel Zeit dort und wenig im Kinosaal. Caroline Peters und Burghart Klaußner sah ich daher vor Jahren im Düsseldorfer Schauspielhaus. Das Stück hieß Heisenberg. Das faszinierte mich mehrfach. Die beiden Bühnenakteure mag ich sehr, das wäre Grund genug gewesen. Aber Heisenberg?
Erinnerungen an mein Studium: Wenn man kleinste Teilchen genau beobachten möchte, verliert man sie aus dem Blick. Genauer, indem man sie beobachtet, verändern sie ihre Eigenschaften, die wir doch beobachten wollten. Das heißt, durch unsere Beobachtung verändern wir das, was wir beobachten möchten. Jedem kommt das als der „Beobachtereffekt“ bekannt vor. Wir können nicht als anwesender Beobachter keinen Einfluss auf die Situation nehmen. Schüler*innen und Referendar*innen spüren das übrigens sehr genau, wenn hinten in der Klasse eine Prüfungskommission sitzt, die den Unterricht beurteilen soll. Diese Menschen dort hinten sehen alles, nur keine realistische Unterrichtssituation. Nur weil sie anwesend sind.
Nun ist das auf der physikalischen Teilchenebene etwas … nun ja, infinitesimaler. Und Heisenberg hatte sicherlich keine Lehramtsprüfung im Kopf, als er seinen Satz von der Unschärferelation formulierte. Aber vielleicht dachte er schon einmal darüber nach, wie zwei Menschen einander betrachten, als wären es zwei Teilchen, die versuchten das jeweils andere näher zu bestimmen. Da wird Physik zur Philosophie. Da wird ein physikalischer Satz zum Filmtitel. Spannend.
Wie zwei Teilchen bewegen sich Alexander und Greta im Film umeinander. Zuerst will sie ihm nahe sein und bedrängt ihn. Sie redet und redet, flunkert und brilliert mit ihren Geschichten. Witziger als Caroline Peters kann man das nicht darstellen. Es lohnt sich aber, hin und wieder, den Blick von ihrer sprühenden Art zu Spielen abzuwenden und Burghart Klaußner zu beobachten. Zuerst ein Fels in der Brandung, in dem Versuch unbewegt zu sein. Als über Siebzigjähriger bringt einen eine junge Frau doch nicht mehr aus der Bahn, oder? Wie sich Alexander mehr und mehr von ihr berühren lässt: Sie ist da, sie lässt ihn nicht mehr los. Er kann nicht unbeeindruckt sein. Das spielen die beiden Akteure wunderbar aus.
Zwei sehr unterschiedliche Menschen begegnen sich, versuchen, einander nahe zu sein. Sind, wie sie sind. Sind im Augenblick schon ein Teil der Situation, die durch den anderen mitbestimmt wird. Braucht es eigentlich auf der Bühne noch mehr? Oder im Film, wo man ihren Gesichtern, ihren Augen so nahe zu kommen glaubt, wie sonst nie. Was sehen wir in diesen beiden Augenpaaren?
Das ist das faszinierende an dem Film. Ich würde ihn noch einmal schauen und wieder etwas ganz anderes betrachten. Wir können nicht unbeeinflusst schauen, vor allem nicht, wenn Burghart Klaußner und Caroline Peters uns, gleich einem physikalischen Teilchen, aus der Bahn werfen.