Michael Helm

Ende einer Reise

Weimar – Berlin – Rheinsberg – Potsdam.

In Weimar fühle ich mich immer wie zu Hause. Weimar ist für mich kulturelle Erholung. Spaziergänge an der Ilm, Anregungen in den Geschichts- und Dichtermuseen, Pausen in den Kaffees. Berlin ist aufregend, hinter jeder Straßenkreuzung eine neue Erfahrung, ein neuer Gedanke, ein neues Bild. Theater, Kunstmuseen, Straßenevents. Menschen. Menschen. Menschen. Rheinsberg war eine neue Erfahrung. Abgeschieden, erholsam, aber etwas vom Schuss. Ein Tucholsky-Museum gehört nach Berlin. Der Mann hat mehr geschrieben, als Rheinsberg. Tucholsky hat sich eingemischt in die Angelegenheiten der jungen deutschen Republik, in die Berliner Angelegenheiten. Das geht uns gerade jetzt etwas an. Und Potsdam lebt von seinen Schlössern, auf die ich gern verzichten kann. Ja, ja, Architektur und Kunstgeschichte. Macht mal. Potsdam war für mich Filmabende und Filmmuseum, das Haus der Wannseekonferenz und das Holländische Viertel. Man ist zügig wieder im Theater in Berlin. Ich liebe Städte, aus denen man auch schnell einmal weg, das heißt ganz woanders ist. Nichts ist so schön, als sich wieder etwas Neues anzuschauen oder etwas Altes neu zu entdecken.

Potsdam – Ein Reiserückblick

Ambivalenzen einer Reise.

Die Ausstellung im „Haus der Wannseekonferenz“ ist einfach gemacht, aber überzeugend. Klar strukturiert. Gut für Schüler*innen und Leute, die sich beginnen, mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Es gibt das Haus am Wannsee, mit idyllischer Aussicht, von dem man weiß, dass hier die Konferenz stattfand, in der die sogenannte „Endlösung“ besprochen wurde. Es gibt das Protokoll, verfasst in einem nüchternen Ton. Die Sachlichkeit des Mordes: Zahlen und bürokratische Formulierungen. Das Wort Mord kommt nicht vor. Das Schicksal von Menschen verschwindet zwischen den Zeilen.

Verärgert darüber, wie lange es gedauert hat, die Ausstellung dort einzurichten. Ein Überlebender musste sein ganzes Leben nach Auschwitz dafür kämpfen und hat die Ausstellungseröffnung nicht mehr erlebt.

Potsdam – Ein Reiserückblick

„La Maison Du Chocolat“. Schon der Name ein Genuss. Café im Holländischen Viertel. Leckere Schokolade. Leckerer Flammkuchen.

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Die ruhige Ferienwohnung mit dem schönen Balkon, auf dem wir jeden Abend mittelmäßigen Wein getrunken haben, der uns früher einmal geschmeckt hatte.

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Das Barberini. Tolle Impressionisten, vor allem die mir noch unbekannten Monets und dann der Schlussraum mit den Seerosen …

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Schloss Sanssouci. Naja. 
Die Gewächshäuser im Botanischen Garten des Schlosses. Ganz wunderbar.

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Einen ganzen Tag im Filmmuseum Babelsberg. Spannende Episoden aus der Filmgerüchteküche. In der Pause gab’s im Restaurant vor dem Haus sehr leckeren Matchatee. Wunderherrlich!

Potsdam – Ein Reiserückblick

Das ist mein Potsdambild. Nicht wieder ein Luxusschloss. (Und Sanssouci ist noch schlimmer als das Schloss in Rheinsberg.) Nicht irgendwelche Sehenswürdigkeiten, die auf der städtischen Internetseite gelistet stehen. Nichts Kulinarisches, nichts Historisches. Das Bild hat seine eigene kleine Geschichte. Das Motiv lag uns zu Füßen im Schlosspark zu Sanssouci, abseits der Statuen und opulenten Gartenanlagen. Am Tag vorher waren wir im Museum Barberini gewesen und hatten uns von den Seerosen Monets kaum trennen können. Und dann dieser Blick …

Aus dem Block …

vorbei

ich kann sie drehen und wenden
ich finde meine komfortable ansicht
der dinge nicht wieder

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.