Michael Helm

Große Plätze und stille römische Orte

Römische Plätze III

Rom wird weiträumig und scheint sich aus der Enge kleiner Gassen und Plätze zu befreien. Keine Ruinen und keine versunkenen Bauten. Vor mir öffnet sich das weite Oval der Piazza San Pietro. Wenn mir bis jetzt nicht klar geworden ist, wer diese Stadt im Stillen modelliert hat, dann wird es mir auf dem Weg hierher bewusst. Es sind die Künstler und vor allem die Bildhauer, die Rom von Jahrhundert zu Jahrhundert gestaltet, verziert und verändert haben.

Manch ein Römer verdammt den Mangel und die Unzuverlässigkeit öffentlicher Verkehrsmittel. Doch der einzige Weg, diese Stadt zu erkunden, ist der Spaziergang durch römische Gassen. Geht man also von der Piazza Navona in Richtung Tiber und überquert den Fluss über die Engelsbrücke, um dann der Straße zum Vatikan zu folgen, ist man – auf dem Petersplatz angelangt – bereits zum dritten Mal dem Barockbildhauer Bernini begegnet. Den Eindruck der Piazza Navona vollendete Bernini mit seinem Vierströmebrunnen. Für die Ponte Sant´ Angelo – die Brücke vor der Engelsburg – entwarf er die Engelsfiguren. Auch die Wirkung des Petersplatzes wäre ohne seine Gestaltung undenkbar. Hier schuf er die Kolonnaden, die das große Oval der Piazza umgeben, aber gleichzeitig öffnen. 

Vier Säulenreihen tragen ein von Heiligenstatuen verziertes Dach. Von gewissen Punkten der Piazza betrachtet, verschwinden die hinteren Säulen dezent hinter der Reihe der vorderen. Im Kreis angeordnet hätte die Anlage für den Platz eine fatal beengende Wirkung, doch die ovale Piazza, mit dem Obelisken im Zentrum, breitet sich vor unseren Augen geradezu aus und gibt den Raum zwischen den Kolonnaden frei. 

Auch beim Blick vom Kirchenvorplatz auf San Pietro in Vaticano beeindruckt die perspektivische Wirkung. Die Peterskirche erlangt eine optische Leichtigkeit, die bei der massiven Fassade erstaunlich ist. 

Man sollte sich jedoch von der Pracht einer Peterskirche oder der Gewaltigkeit einer Engelsburg nicht verlocken lassen. Besondere Seherlebnisse sind ganz anderer Art. In einem Winkel direkt am Eingang von San Pietro in Vaticano möchte ich stundenlang vor der Pietà des Michelangelo stehen. Gleiches gilt für das Deckenfresco der Sixtischen Kapelle. Könnte ich doch wie Goethe seine Zeit hier alleine verbringen, um die Ruhe für jede Nuance der gemalten Geschichten zu haben. Ich werde neidisch, lese ich bei Goethe die Zeilen: »Die Kapelle selbst kenne ich recht gut, ich habe vorigen Sommer drin zu Mittag gegessen und auf des Papstes Thron Mittagsruhe gehalten und kann die Gemälde fast auswendig.« Wahrhaft paradiesische Zustände!

»Wenn mich das monumentale Rom zu erschlagen droht, dann sind es diese stillen Orte, die mich wieder zurückfinden lassen.«

Völlige Abgeschiedenheit genieße ich hingegen in einer kleinen Kirche, genannt San Pietro in Vincoli, vor dem Moses des Michelangelo. »Ich habe von keinem Bildwerk je eine stärkere Wirkung erfahren«, sagte Sigmund Freud seinerzeit und fuhr beeindruckt fort: »Manchmal habe ich mich dann behutsam aus dem Halbdunkel des Innenraums geschlichen, als gehörte ich selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist.« 

Wenn mich das monumentale Rom zu erschlagen droht, dann sind es diese stillen Orte, die mich wieder zurückfinden lassen: ein verlassener Fleck auf dem Palatin, an dem ich ostersonntags die vielen Glocken Roms hörte; San Pietro in Vincoli, einsam vor der uralten Gestalt in Marmor sitzend. Es sind die winzigen Details, die uns voller Gedanken in die Tiefe führen. Es sind die Skulpturen, die ihre Geschichte erzählen: die Aschenurne eines etruskischen Paares, der sterbende Gallier, die Gruppe des Laokoon, das Durchscheinen des marmornen Gewandes der Aphrodite, die mythologische Bildererzählung auf einer etruskischen Vase. Rom ist nicht nur eine Stadt, in der man zu verschiedenen Zeiten lebt, sondern auch eine Stadt, in der man paradoxerweise gleichzeitig an ganz verschiedenen Orten sein kann. 

Michael Helm

Campo de´ Fiori

Römische Plätze

Er liegt verwinkelt inmitten der Stadt, als ziere er sich; wenn auch alle Römer ihn kennen. Das Blumenfeld genannt – ins Deutsche übertragen – als wolle man ihn, den Campo de´ Fiori, blumig bezeichnen. Obwohl er seinen Namen den Blumen fiori verdankt, die hier im Mittelalter wild wuchsen, ist er noch immer treffend so benannt. Denn folgt man morgens einer kleinen römischen Gasse – die verstellt ist mit gestauchten Automobilen und Rollern und deren Häuser halb verborgen liegen hinter Bougainvillen, hinter Geranien und Yuccas – dann öffnet sich der bescheidene Platz plötzlich in bunter Farbigkeit vor unseren Augen: Grüne, rote und gelbe Peperoni hängen bei weißen und rötlichen Zwiebeln, neben Knoblauch und über Orangen, Tomaten und Erdbeeren; alles kunterbunt durcheinander, wie auf einer Frühjahrswiese.

Campo de´ Fiori. Gerüche von Kräutern und Gewürzen. Geklapper von Kisten und Ständen. Die alte Zeigerwaage wiegt die Wünsche nach frischem Gemüse, nach Obst aller erdenklichen Sorten in wenigen Münzen auf. Am nächsten Stand wühlt man schon zwischen Sommerhüten und Seidentüchern. Italienisches Palaver schwillt an und ab zwischen den Ständen des morgendlichen Marktes. Und am Rande des Ganzen hockt ein kleiner Hund auf der Fußablage eines Motorrollers. Den Kopf streckt er genüsslich nach oben, als warte er dort, nur die Sonne genießend, auf Herrchen. Dabei betrachtet er das menschliche Treiben des Marktes von einer, für ihn doch exponierten Stelle mit Gleichgültigkeit. Morgens ist er der kleine Herr des Campo de´ Fiori auf seinem Roller. Als gäbe es da einen Zweifel!

Doch der Platz verändert sich im Licht. Obst- und Gemüsestände sind am Nachmittag auf einmal verschwunden und der Campo öffnet sich den Blicken. Dann ragt inmitten des Platzes ein Standbild auf, das im geschäftigen Treiben untergegangen schien. Die düstere Gestalt auf ihrem Sockel hatte den ganzen Morgen unbewegt über die Marktstände geschaut. Nun blickt sie nachdenklich auf den Campo. Das Gesicht des Mannes liegt verborgen unter der Kapuze seiner Mönchskutte. Gerade erst scheint er stehen geblieben. Seine Arme haben sich vor der Kutte verschränkt, seine Hände haben sich nicht zum erlösenden Spruch gefunden; sie schwören nicht ab! Stattdessen, so scheint es, hält er fest an der Gewissheit eines Buches, das er sich selbstbewusst an den Leib drückt. Das Geheimnis seines Gesichtes bleibt unter der Kapuze verborgen. 

Bricht der Abend herein wird der Platz dunkler und die Lampen erleuchten ihn spärlich. Verstohlen tastet das künstliche Licht der Laternen sich über den Campo. Ihn umgeben erleuchtete, kleine Geschäfte. Die Restaurants öffnen, die Tische rings um den Platz füllen sich; das abendliche Leben des Campo de´ Fiori beginnt.

Je finsterer es wird, desto mutiger scheint mir das Licht der Laternen. Gelblich-orange schimmert es zu Füßen des Mönches und klettert langsam empor am sandsteinernen Sockel. Er steht weiterhin ungerührt inmitten des römischen Platzes. Touristen umgeben ihn mit sorgloser Ausgelassenheit, lassen sich am Fuß des Postamentes nieder. Die Menschen genießen ihr Essen, den Wein, die besondere Atmosphäre eines Ortes, der durch sein nächtliches Lichtspiel verzaubert. Ringsum ist Leben, ist Ausgelassenheit und Leichtigkeit.

Das Geheimnis des Platzes liegt jedoch in einer kaum bemerkten Schwere

Sein verborgener Blick liegt auf dem Campo. Was, wenn der einsame Mönch dort oben nicht ausharrte? 1600 n. Chr. hatte man Giordano Bruno hier zum Scheiterhaufen geführt und lebendig verbrannt. Zuvor acht Jahre Haft und der Prozess der Inquisition. In der einsetzenden Dunkelheit schaut er von seinem Postament auf die Menschen in den Bars und Lokalen; inmitten des römischen Lebens, inmitten des sonderbaren Lichtes, das sich zu Giordano Brunos Füßen in der Dunkelheit ausbreitet, als schwele hier noch eine Glut. Hält uns die Dunkelheit einmal umschlungen, sieht man, wie der helle Sandstein des Postaments im kunstvollen Licht flimmert. Die dunkle Bronzegestalt in ihrem Umhang entzieht sich unserem Blick und verschwindet über uns allmählich in finsterer Nacht.

Michael Helm

Aus dem Block …

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.

Jon Fosse bekommt Literaturnobelpreis

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