Es passiert mir ja nicht oft, dass ich morgens ein Buch zur Hand nehme – mehr aus Verlegenheit – und dann bis zum Abend nicht mehr loslasse, bis es ausgelesen ist. „Das Archiv der Gefühle“ lag schon lange neben meiner Leselampe. Von Peter Stamm lese ich eigentlich alles sofort. Diesmal war mir manches dazwischengekommen. Aus Verlegenheit griff ich danach, weil ich mich über die Vorlektüre so geärgert, dass ich sie kurzer Hand weggeworfen hatte. Nichts anderes lag griffbereit, als „Das Archiv der Gefühle“. Das Titelbild gefällt mir nicht und mit dem Titel konnte ich eigentlich auch nichts anfangen. Vielleicht hatte es deswegen so lange auf dem Lesetisch gelegen. Aber es ist doch ein Peter Stamm …!
Ich las. Ich kam nicht mehr davon los. Bis ich es abends aus der Hand legte, weil es nichts mehr darin zu lesen gab.
Der Protagonist scheint aus dem Leben geworfen. Seinen Job als Archivar hat er verloren, das Archiv in seinen privaten Keller überführt und nun setzt er fort, was lange sein Beruf im Pressehaus gewesen war. Er archiviert Zeitungsartikel. Kontakt zur Außenwelt, minimal. Selbst auf Spaziergängen trifft er kaum mehr Leute. Die Welt scheint verlassen.
Lägen nicht die zwei vergangenen Jahre hinter uns, hätte ich erst an Thomas Glavinics „Die Arbeit der Nacht“ gedacht. In Glavinics Roman lebt der Erzähler plötzlich in einer alptraumhaften, menschenleeren Welt. Aber in Pandemie-Zeiten denken wir natürlich anders, obwohl Stamm weder das C-Wort erwähnt, noch irgendwelche Anspielungen auf die Pandemie macht. Es ist das Lebensgefühl des Auf-sich-sebst-geworfen-seins, das einem so bekannt vorkommt. Es wird hier zum eigentlichen Thema.
Wenn der Kopf nur noch mit sich selbst und seiner Vergangenheit konfrontiert ist, kommen die Erinnerungen. Im Roman ist es Franziska, eine alte Jugendliebe, die nie eine Erfüllung gefunden hat. Sie heißt längst nicht mehr Franziska, sondern Fabienne und ist erfolgreiche Sängerin geworden. Eine Person des öffentlichen Lebens, eine prominente Person des Archivs. Aber Franziska bestimmt fast jeden seiner Gedanken. Während sich der Erzähler anhand alten Archivmaterials erinnert, beginnt er mit Franziska zu reden, so, als stünde sie neben ihm. Sie erscheint ihm und verschwindet immer wieder.
Auf diese Art stellt Peter Stamm die scheinbar objektive Welt der Pressefakten und der klaren Erinnerungsbilder des Erzählers neben die idealisierte Vorstellung von dieser Frau. Die Vorstellung gewinnt an Leben. Die Franziska seiner Gedanken und Wünsche ersteht vor ihm. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt. Bis Franziska / Fabienne plötzlich wieder „real“ im Leben des Protagonisten auftaucht …
Ich kann die Faszination der Bücher Peter Stamms auf mich nicht erklären. Das geht so weit, dass ich Handlungen und Figuren seiner älteren Bücher zu vergessen scheine und so seine Romane erneut und erneut mit Genuss lese. Mein Erinnern bezieht sich in seinen Texten auf etwas anderes. Es ist ein Gefühl des Wiedererkennens im Leben.
Vielleicht lag die Faszination des aktuellen Romans darin, dass mir bislang noch niemand so gut zu schildern vermochte, was geschieht, wenn wir nur noch auf uns selbst bezogen sind, auf diese innere Welt, auf unserer Vergangenheit, weil es scheinbar kein Außen, kein Umfeld, kein Miteinander mehr gibt. Wenn wir nur noch unser eigenes kleines Leben archivieren. Geht das überhaupt? Vielleicht ist es auch ganz anders …
mh
Peter Stamm Das Archiv der Gefühle Roman, Fischer-Verlag, 2021
Aus dem Block …
Der Fremde
gesprochen von Ulrich Matthes
Meursault eine Stimme geben? Wer könnte das besser als Ulrich Matthes. Nach meiner Camus-Lektüre in den vergangenen Wochen, habe ich mir „Der Fremde“, gesprochen von Ulrich Matthes, angehört. Bei Hörbüchern bin ich sehr zurückhaltend. Ich mag einige sehr bekannte deutsche Hörbuchsprecher überhaupt nicht. Zu einer Stimme, auf die ich mich stundenlang einlasse, habe ich eine besondere Beziehung. Das muss passen. Das ist nicht zu begründen. Das ist eine Bauchentscheidung. Matthes passt.
Seiner Stimme kann ich zuhören, auf dem Sofa, auf einem Spaziergang, auf dem überfüllten Bahnsteig. Ich verliere nicht den Faden, wie es mir bei anderen häufig passiert. Er hält mich immer im Stück.
Camus´ Werke zu sprechen, insbesondere den Fremden, Meursault, ist eine besondere Herausforderung. Ulrich Matthes hält sich zurück, gibt dem Text genau die lakonische Stimmung, die er braucht. Gleichzeitig wirkt die Stimme in den Detailbetonungen nie monoton. Es entstehen Bilder beim Hören, wie sie mir selbst beim Lesen nicht gekommen waren, obwohl ich bei der Lektüre viel mehr Zeit hatte. Rhythmus, Tempo, Pause, das alles wird wunderbar in eine Stimme gebracht, wie ich sie mir für Meursault vorstelle. Diese Stimme bleibt in meinem Kopf. Dank des Autors, dank des Sprechers.
mh
24.08.1922 – Tucholsky vor einhundert Jahren
„Wir sind fünf Finger an einer Hand“, schreibt Kurt Tucholsky in einem Artikel der Weltbühne 1922. Die fünf aus dem Zitat, das sind Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Kurt Tucholsky selbst. Tucholsky ist eigentlich kein Pseudonym, aber unter all diesen Namen veröffentlichte er in den verschiedenen Zeitungen. Und der Name Tucholsky trollte sich eben wie ein solches im Reigen der anderen Pseudonyme. Zusammen hatten sie die Schlagkraft, die der 1890 in Berlin geborenen Tucholsky aufbringen musste, um gegen die Missstände in der jungen Weimarer Republik anzuschreiben, für die Freiheit und für die Demokratie. „Wir alle Fünf lieben die Demokratie.“
Wir alle Fünf von Kurt Tucholsky
Die rechtsstehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als »den vielnamigen Herrn« hinzustellen, »der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt«. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma.
Aber wir stammen alle Fünf von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm.
Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte Original-Deutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offiziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereit halten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste Kavallerie-Wachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, dass man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den ›gemeinen Mann‹ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Kommis.
Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht ›gleich‹ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest.
Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf.
Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, dass es schallt, und dass die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke.
Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.