Camus´ Gedanken teilt man oder eben nicht. Diesen Satz habe ich oft gehört. Das sei eben keine strenge Philosophie. Das kann sie gar nicht sein, war immer meine Erwiderung. Hatte nicht Camus selbst behauptet, die Philosophie gehöre zu den Sinnstiftungs-Überbauten denen sich der Mensch hingäbe, um dem Absurden zu entfliehen? Überhaupt, das Gefühl des Absurden. Vielleicht fingen die Differenzen mit meiner Philosophielehrerin schon hier an. Gefühle sind nicht Gegenstand der Philosophie. Der Schüler der zwölften Klasse kann sie schlecht ignorieren und es fällt ihm bis heute schwer.
Das alles ist eine unzureichende Begründung dafür, dass ich mir wieder die Bände von und über Albert Camus hervorgeholt habe. Erst die Biografie von Olivier Todd, dann die von Iris Radisch. Parallel dazu „Der Fremde“ und „Licht und Schatten“.
Olivier Todd beschreibt das Leben Camus´ so detail- und umfangreich, dass ich die Lektüre nach hundert Seiten abgebrochen habe. Mir fehlte die Ausdauer. Das Buch von Iris Radisch hat mich dann etwas geärgert. Ich bezweifle mittlerweile, dass man solche Wertungen und Beurteilungen über einen Menschen zu treffen in der Lage ist. Nicht falsch verstehen: Das Buch ist aus literaturwissenschaftlicher Perspektive vortrefflich recherchiert. Es ist fundiert und alles darin scheint sicher belegt. Zweifel darüber, das Leben eines längst verstorbenen Autors so zu beurteilen, bleiben mir dennoch.
Zu vieles scheint mir in solchen Biografien durch die Brille der heutigen Zeit betrachtet, mit heutigen Beurteilungskriterien bemessen zu sein. Zeitlicher Abstand macht überlegen, überheblich. Camus als Dandy und Frauenheld, das ist alles benannt, aber nicht hinreichend erklärbar. Wie will man es auch erklären, ohne deutlich zu machen, dass es sich nur um eine Näherung an einen Menschen handeln kann. Ich ahne als Leser, dass biografisch, psychologisch einiges mehr dahinter stecken muss, als darstellbar wäre.
Ist ein Mensch — der sich selbst nicht ohne Selbstzweifel erklären könnte — überhaupt erklärbar. Eine Näherung an ihn, vielleicht hilfreich, eine umfassende Darstellung seines Selbst in seiner Zeit, unmöglich. Denke ich heute.
Mit diesem Zweifel gelesen, war die Biografie „Albert Camus – Das Ideal der Einfachheit“ dann doch noch ganz lesenswert für mich. Mein Fazit ist allerdings, dass ich Biografien zunehmend misstraue. Das hat vielleicht weniger mit dem Buch von Frau Radisch zu tun, als mit dem misstrauischen Gedanken selbst. Vielleicht ist der Ansatz eines Olivier Todd dann doch gewinnbringender und ich muss die nötige Geduld aufbringen, die vielen Details nebeneinander stehen zu sehen. Besser ist es allemal, die Werke, Tagebücher und Nachlassschriften selber zu lesen und einzuordnen. Ich bin gefordert.
mh
Olivier Todd Albert Camus – Ein Leben Übersetzt von Doris Heinemann Rowohlt, 1999
Iris Radisch Das Ideal der Einfachheit – Eine Biographie Rowohlt, 2014
Aus dem Block …
Der Fremde
gesprochen von Ulrich Matthes
Meursault eine Stimme geben? Wer könnte das besser als Ulrich Matthes. Nach meiner Camus-Lektüre in den vergangenen Wochen, habe ich mir „Der Fremde“, gesprochen von Ulrich Matthes, angehört. Bei Hörbüchern bin ich sehr zurückhaltend. Ich mag einige sehr bekannte deutsche Hörbuchsprecher überhaupt nicht. Zu einer Stimme, auf die ich mich stundenlang einlasse, habe ich eine besondere Beziehung. Das muss passen. Das ist nicht zu begründen. Das ist eine Bauchentscheidung. Matthes passt.
Seiner Stimme kann ich zuhören, auf dem Sofa, auf einem Spaziergang, auf dem überfüllten Bahnsteig. Ich verliere nicht den Faden, wie es mir bei anderen häufig passiert. Er hält mich immer im Stück.
Camus´ Werke zu sprechen, insbesondere den Fremden, Meursault, ist eine besondere Herausforderung. Ulrich Matthes hält sich zurück, gibt dem Text genau die lakonische Stimmung, die er braucht. Gleichzeitig wirkt die Stimme in den Detailbetonungen nie monoton. Es entstehen Bilder beim Hören, wie sie mir selbst beim Lesen nicht gekommen waren, obwohl ich bei der Lektüre viel mehr Zeit hatte. Rhythmus, Tempo, Pause, das alles wird wunderbar in eine Stimme gebracht, wie ich sie mir für Meursault vorstelle. Diese Stimme bleibt in meinem Kopf. Dank des Autors, dank des Sprechers.
mh
24.08.1922 – Tucholsky vor einhundert Jahren
„Wir sind fünf Finger an einer Hand“, schreibt Kurt Tucholsky in einem Artikel der Weltbühne 1922. Die fünf aus dem Zitat, das sind Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Kurt Tucholsky selbst. Tucholsky ist eigentlich kein Pseudonym, aber unter all diesen Namen veröffentlichte er in den verschiedenen Zeitungen. Und der Name Tucholsky trollte sich eben wie ein solches im Reigen der anderen Pseudonyme. Zusammen hatten sie die Schlagkraft, die der 1890 in Berlin geborenen Tucholsky aufbringen musste, um gegen die Missstände in der jungen Weimarer Republik anzuschreiben, für die Freiheit und für die Demokratie. „Wir alle Fünf lieben die Demokratie.“
Wir alle Fünf von Kurt Tucholsky
Die rechtsstehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als »den vielnamigen Herrn« hinzustellen, »der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt«. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma.
Aber wir stammen alle Fünf von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm.
Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte Original-Deutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offiziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereit halten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste Kavallerie-Wachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, dass man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den ›gemeinen Mann‹ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Kommis.
Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht ›gleich‹ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest.
Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf.
Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, dass es schallt, und dass die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke.
Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.