Michael Helm

Nacht der Bibliotheken

Heute ist die „Nacht der Bibliotheken“, auch in Spenge. Ich hätte dort heute Abend Kurt Tucholsky gelesen. In C-Zeiten natürlich nicht live.

Dabei hatte ich im Dezember noch gehofft: Im März könnte doch wieder etwas gehen, vielleicht im kleinen Rahmen, vielleicht mit wenig Publikum, hinter Masken und Plexiglaswänden, oder doch ohne Gäste? Jetzt findet die Lesung auch ohne Rezitator statt. Der sitzt, wie Sie, zu Hause und liest sich selbst etwas vor.

Dafür hat die fb-Seite der „Stadt Spenge – Kultur und Stadtmarketing“ einen kleinen Auszug, einen Tucholsky-Schnipsel von mir online gestellt. (Danke dafür an Spenge und die Bücherei.)

Das Thema der Nacht der Bibliotheken ist „Einmischen“. Und Tucholsky hat sich eingemischt und würde es auch heute noch tun. Aber dazu dann später wieder mehr … live, ohne Virus, mit Publikum und Live-Einmischung meinerseits.

Wenn ich körperlich auch nicht anwesend sein werde, geistig bin ich bei Ihnen, ohne den Mut und die Hoffnung aufzugeben. Es kommen bessere Tage.

Einen herzlichen Gruß,
Ihr Michael Helm

Aus dem Block …

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.

Jon Fosse bekommt Literaturnobelpreis

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