Michael Helm

„Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne“

Motive im Werk Albert Camus´

„So sehen wir nur, wie ein angespannter Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein anzuheben, ihn hinaufzuwälzen und mit ihm wieder und wieder einen Hang zu erklimmen. Wir sehen das Gesicht, die Wange, die sich an den Stein presst (…). Und nun sieht Sisyphos, wie der Stein innerhalb weniger Augenblicke in jene niedere Welt hinabrollt, aus der er ihn wieder hoch auf den Gipfel wälzen muss.“ 

Albert Camus; Der Mythos von Sisyphos [1]

Am 7. November 1913 wurde der französische Schriftsteller Albert Camus in Algerien bei Mondovi geboren. Seine Werke, wie Der Fremde, Die Pest, Der Fall, wurden weltbekannt, besonders, nachdem er 1957 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Trotzdem scheint dieser außergewöhnliche Autor nie ganz erklärbar zu sein. Sein Werk ist durchdrungen von einer grellen nordafrikanischen Sonne, die manches erhellt und gleichzeitig ins gleißende Licht rückt, wo es wiederum blenden, fast schmerzen kann. Die Landschaft seiner Jugend im Mittelmeerraum bleibt in seinem Werk immer spürbar. Das Licht spielt eine tragende Rolle darin. 

„Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne. Vergebens versuchen die Augen mehr festzuhalten als die leuchtenden Farbtropfen, die an den Wimpern zittern. Der herbe Geruch der Kräuter kratzt in der Kehle und benimmt in der ungeheuren Hitze den Atem.“ 

A. Camus; Hochzeit des Lichts [2]

Was Camus in „Hochzeit des Lichts“ schildert zieht sich auch durch sein gesamtes Prosawerk, durch Essays und Tagebücher: Der Fremde begeht einen Mord, weil die Sonne so grell und unerbittlich vom Himmel herab sticht. In Oran, wo Camus´ Roman „Die Pest“ spielt, sind die Menschen eingeschlossen in ihrer Stadt, eingeschlossen im gleißenden Licht der Sonne, eingeschlossen mit der Unausweichlichkeit der Pest. Und in seiner Erzählung „Die Ehebrecherin“ schreibt Camus:

„Die helle Luft schien rings um sie in Schwingung zu geraten, eine zunehmend länger anhaltende Schwingung, als entlocke ihr Schritt dem Kristall des Lichts eine stets weitere Kreise ziehende Klangwelle.“ 

A. Camus; Gesammelte Erzählungen [3]

In der Landschaft des Mittelmeerraums manifestieren sich für Camus die Gegensätze von Licht und Schatten, von Sonne und Meer. In gewisser Weise gehen diese Gegensätze auch in seine philosophischen Essays ein, besonders in seinen „Mythos des Sisyphos“. Den Charakter seines Werkes könnte man auch als bildhaft, als ein „Denken in Bildern“ bezeichnen. Immer wieder verwendet er die gleichfalls im „mittelmeerischen Denken“ entstandenen Bilder der griechischen Mythologie. Im Mythos ist es die Gestalt des Sisyphos, der, verurteilt von den Göttern, einen Stein immerwährend einen Berg hinaufrollen muss. Oben angelangt entgleitet ihm der Brocken und rollt ins Tal. Camus schildert hier das Bild einer sinnlosen Tätigkeit, das Sinnbild eines menschlichen Daseins im Alltagstrott des Immerwiederkehrenden, des Mühsals eines tristen menschlichen Lebens; das Sinnbild der Sinnlosigkeit selbst.

Was interessiert Camus an diesem Sisyphos? Aus dem Nachdenken, über diesen tragischen Helden der Mythologie heraus, stellt er sich Sisyphos als einen absurden Menschen vor, der auf dem Weg vom Berg hinab zurück zu seinem Stein, nachzudenken beginnt. Das ist der Moment seiner möglichen Erkenntnis und der Augenblick seiner Tragik. Denn einmal bewusst erfahren, vermag er das volle Gewicht des Steines zu erfassen, die Sinnlosigkeit und Absurdität seines Daseins zu erkennen. Es bleiben ihm verschiedene Möglichkeiten auf dem Weg hinunter:

Erstens: Im vagen Gefühl der Absurdität seines Lebens wird der konsequente Gedanke des Erkennens verdrängt, sozusagen abgebrochen und Sisyphos setzt seinen Leidensweg unbedacht weiterhin fort. Die Hoffnung auf Erlösung trägt ihn weiter.

Zweitens: Aus dem Gefühl der Absurdität erwächst der Gedanke des Erkennens: die Sinnlosigkeit des eigenen Daseins; die unüberwindbare Kluft der Zerrissenheit zwischen dem Ich und seiner Welt. Diese Welt ist sinnlos. Die Tätigkeit, die die Götter Sisyphos als Strafe auferlegt haben, macht keinen Sinn. Die Hoffnung auf eine göttliche Erlösung ist dahin, gleichfalls die Hoffnung auf die „vernünftige Erlösung“ durch ein philosophisches Ideenkonstrukt. Weder der Glaube noch ein philosophisches System sind für Sisyphos als Auswege möglich. Diese Erkenntnis ist für Camus das Ende jeder Hoffnung. 

Drittens: Aus der Erkenntnis zieht Sisyphos den Schluss sein sinnloses Dasein beenden zu können. Camus beurteilt diese Schlussfolgerung in seinem Essay ebenso als Flucht, wie die Hoffnung auf einen höheren, religiös motivierten Sinn oder den Rückzug auf eine philosophisch abgeleitete Sinnhaftigkeit eines Ideenkonstruktes. Den letzteren Fall bezeichnet Camus als „philosophischen Selbstmord“. 

Der Weg, den sich Camus jedoch für seinen antiken Helden denkt, ist so schwierig wie einfach. Sisyphos erkennt und erträgt. Er erfährt die ganze Absurdität seiner Existenz und hält ihr offenen Auges stand. Er geht – sich dieser Absurdität und sich seiner selbst bewusst – hinunter und beginnt den Stein erneut hinaufzustemmen. Sisyphos verspottet die Götter, verhöhnt sein eigenes Schicksal. In seinem Trotz ist er seinem Schicksal überlegen. Diese Auflehnung gegen den Stein ist für Camus die Revolte. Die moderne Existenz liegt in der Auflehnung, der Mensch verbleibt in der steten Revolte. 

Das Licht, das Sisyphos bescheint, wenn er den Stein auf den höchsten Gipfel gerollt hat, ist nicht nur das erhellende Licht des Erkennens, sondern auch das gleißende Licht des Schmerzes, der den Trost der Hoffnung nicht kennt, das brennenden Licht der Sonne aber erträgt. Und Sisyphos kehrt in den Schatten des Hades zurück, von wo er den Stein am Fuße des Berges aufheben muss, um wieder aufzusteigen. 

Was Albert Camus im Mythos von Sisyphos beschreibt, die Gedanken über das Absurde, den absurden Menschen, das absurde Leben, durchzieht sein ganzes Werk wie das Licht der Mittelmeersonne. Den warmen Glanz des Literaturnobelpreises konnte der Autor allerdings nicht mehr lange genießen. Er verstarb drei Jahre später (1960)  bei einem Verkehrsunfall.

mh

 [1] Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos; rororo, 4. Aufl. 2002; S. 156f. 

[2] Albert Camus: Hochzeit des Lichts – Heimkehr nach Tipasa; Arche 2000; S. 9

[3] Albert Camus: Gesammelte Erzählungen, Die Ehebrecherin; Rowohlt; 1966; S. 118

Aus dem Block …

Der Fremde

gesprochen von Ulrich Matthes

Meursault eine Stimme geben? Wer könnte das besser als Ulrich Matthes. Nach meiner Camus-Lektüre in den vergangenen Wochen, habe ich mir „Der Fremde“, gesprochen von Ulrich Matthes, angehört. Bei Hörbüchern bin ich sehr zurückhaltend. Ich mag einige sehr bekannte deutsche Hörbuchsprecher überhaupt nicht. Zu einer Stimme, auf die ich mich stundenlang einlasse, habe ich eine besondere Beziehung. Das muss passen. Das ist nicht zu begründen. Das ist eine Bauchentscheidung. Matthes passt. 

Seiner Stimme kann ich zuhören, auf dem Sofa, auf einem Spaziergang, auf dem überfüllten Bahnsteig. Ich verliere nicht den Faden, wie es mir bei anderen häufig passiert. Er hält mich immer im Stück. 

Camus´ Werke zu sprechen, insbesondere den Fremden, Meursault, ist eine besondere Herausforderung. Ulrich Matthes hält sich zurück, gibt dem Text genau die lakonische Stimmung, die er braucht. Gleichzeitig wirkt die Stimme in den Detailbetonungen nie monoton. Es entstehen Bilder beim Hören, wie sie mir selbst beim Lesen nicht gekommen waren, obwohl ich bei der Lektüre viel mehr Zeit hatte. Rhythmus, Tempo, Pause, das alles wird wunderbar in eine Stimme gebracht, wie ich sie mir für Meursault vorstelle. Diese Stimme bleibt in meinem Kopf. Dank des Autors, dank des Sprechers.

mh

24.08.1922 – Tucholsky vor einhundert Jahren

„Wir sind fünf Finger an einer Hand“, schreibt Kurt Tucholsky in einem Artikel der Weltbühne 1922. Die fünf aus dem Zitat, das sind Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Kurt Tucholsky selbst. Tucholsky ist eigentlich kein Pseudonym, aber unter all diesen Namen veröffentlichte er in den verschiedenen Zeitungen. Und der Name Tucholsky trollte sich eben wie ein solches im Reigen der anderen Pseudonyme. Zusammen hatten sie die Schlagkraft, die der 1890 in Berlin geborenen Tucholsky aufbringen musste, um gegen die Missstände in der jungen Weimarer Republik anzuschreiben, für die Freiheit und für die Demokratie. „Wir alle Fünf lieben die Demokratie.“

Wir alle Fünf
von Kurt Tucholsky

Die rechtsstehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als »den vielnamigen Herrn« hinzustellen, »der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt«. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma.

Aber wir stammen alle Fünf von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm.

Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte Original-Deutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offiziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereit halten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste Kavallerie-Wachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, dass man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den ›gemeinen Mann‹ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Kommis.

Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht ›gleich‹ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest.

Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf.

Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, dass es schallt, und dass die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke.

Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.

Kurt Tucholsky
Die Weltbühne vom 24.08.1922