Michael Helm

Lärm, Lärm, Lärm

Ein von mir sehr geschätzter Autor und Essayist mahnte einmal vor den Noise-Cancelling-Kopfhörern, wie sie im modernen Sprachgewirr gerne heißen. Es handelt sich um die Kopfhörer, die viele Außengeräusche ausfiltern und dem Hörer Stille und Ruhe schenken.

Meiner Formulierung entnehmen Sie, dass ich mich seiner Meinung ausnahmsweise nicht vollumfänglich anschließen möchte. Er beklagt, dass da Menschen herumlaufen, die für keine Form der Kommunikation mehr zugänglich sind. Sie stehen am Bahnhof, mitten im Gewühl, und bekommen gar nichts mehr mit. Es ist schwer, sie anzusprechen. Sie hören nicht. Sie sind abgewandt, gänzlich verinnerlicht. Sie reagieren nicht. Sie stehen nur da.

In den Worten des Autors sah ich mich selbst dort stehen. Alle Welt redet auf mich ein. Ich bekomme nichts mit. Starre und schweige. Doch, ein erschreckendes Bild. Aber!

In den letzten Jahrzehnten habe ich festgestellt, dass es mir immer schwerer fällt, das alles auszuhalten: stupide, sich widersprechende Durchsagen der Deutschen Bahn, der Lärm der permanenten Baustellen und Fahrzeuge aller Art, das permanente Gequassel der Menschen um mich herum. Lärm, Lärm, Lärm. Akustische Reizüberflutung überall.

Früher wohnten wir in einem kleinen Ort ziemlich ruhig. Heute arbeitet das Metallwerk in der Nähe fast vierundzwanzigstündig, der Steinbruch wurde erweitert, die Bundesstraße ist wegen des erheblich gewachsenen Autoverkehrs bis tief in die Nacht permanent hörbar und ihr unterschwelliges Rauschen ein andauernder Reiz. Und wenn dann endlich Ruhe einkehrt, stört fast nächtlich ein Raser unseren Schlaf, der um Punkt Elf den Motor zur Vergrößerung seines Egos aufheulen lässt und seine immer zu uns wiederkehrenden Runden zieht. Ich schweige hier von Laubbläsern, Motorsägen und anderen hübschen Geräten, von denen ich mir habe sagen lassen, dass viele von ihnen längst viel leiser produziert werden könnten, dass sich aber nur ihre lärmenden Geschwister gut verkaufen ließen. Was gut ist, muss brummen!

Ich konnte irgendwann nicht mehr. Unterwegs im Zug will ich hin und wieder ein wenig Ruhe haben oder noch etwas vorbereiten für den nächsten anstrengenden Termin. Ich gebe zu, schlecht abschalten zu können, wenn neben mir zwei geschäftliche Handygespräche gleichzeitig geführt werden, während sich die anderen über Bahnverspätungen und Umstiegsalternativen echauffieren. Kommt hinzu, der Deutsche neigt gerade im Zug dazu, ausgelassen über alles zu nörgeln und zu schimpfen.

Als ich einmal im ICE laut vernehmen ließ, ich führe aber gern mit der Bahn und wäre gestern pünktlich und entspannt überall angekommen, da verstummten alle Stimmen in meinem Umkreis, als hätte ich meine Noise-Cancelling-Kopfhörer aufgesetzt. Der spinnt doch! Pünktlich und entspannt? Auf welchem Planeten lebt denn der?

Aber zurück zum Thema. Ich kann das nicht mehr. Zugegeben, ich sehe nicht sonderlich kommunikativ aus. Aber meiner Sitznachbarin habe ich noch immer geholfen, wenn sie nicht mehr weiter wusste in der Bahn-App. Ich sah es ihren fragenden Augen an und reagierte. Aber muss ich jeden Quatsch über mich ergehen lassen, ohne dass andere einmal darüber nachdenken, wie laut sie gerade sind. Haben wir einmal darüber nachgedacht, wie hoch der Lärmpegel in unserem Alltag geworden ist? Ohhh … da will schon wieder einer neue Messungen, Grenzwerte und Verbote, schallt es mir gleich entgegen. Nein!

Ich will meine Ruhe, ab und an meine Ruhe! Es muss nicht immer ungefiltert alles auf mich einprasseln. Alternative: Ihr stellt eure Geräte zur Abwechslung einmal leiser. Ihr baut Staubsauger, die man kaum hört. Sie werden schon funktionieren, auch wenn man sie nicht hört. Und wie wäre es, wenn Motorradfahrer, die glauben, der Sound ihrer Maschine wäre unverzichtbar, sich selbst die Kopfhörer aufsetzten und den unerträglichen Lärm dort abspielten, zu ihrem alleinigen Ohrenschaden. Aber wenn sie wüssten, dass ich es nicht wahrnähme, dann hätte ihr Ego ja nichts davon. Schade.

Da ich den anfänglich erwähnten Essayisten aber so schätze, hier mein Vorschlag des Kompromisses. Wir Menschen bewegen uns in unsere Umwelt wieder ein bisschen leiser. Vielleicht denken wir beim nächsten Handytelefonat auch an die stillen Gesprächsteilnehmer links und rechts neben uns und verlassen gleich das Abteil. Ich will hier nicht wieder das unmögliche Wort „Achtsamkeit“ hören. Es ist so aufdringlich geworden wie ein Presslufthammer.

Dafür nehme ich meine Noise-Cancelling-Kopfhörer wieder ab, wenn mir Menschen am Bahnsteig gegenüberstehen oder ich durch die Fußgängerzone gehe. Dann sehe ich sicher wieder kommunikabler aus, freundlicher, eben wieder wie ein netter Mensch.

Ich will ja keine Verbote. Nur ein bisschen Ruhe.
Geht! Weiß ich, wenn ich im „Ruheabteil“ der Deutschen Bahn fahre. Übrigens, wenn ich die Augen meines Gegenübers wegen der schwarzgetönten Brillengläser nicht sehen kann, ist das auch nicht gerade kommunikativ. Besonders nachts!

Aus dem Block …

vorbei

ich kann sie drehen und wenden
ich finde meine komfortable ansicht
der dinge nicht wieder

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.