„Bei aller Schläue hatten sie das Geheimnis, was ein anderer dachte, noch nicht gelüftet. Vielleicht traf das weniger zu, wenn sie einen in der Hand hatten. Man wusste nicht, was im Liebesministerium geschah, aber vermuten konnte man es: Folter, Drogen, empfindliche Apparate, die die Nervenreaktionen registrierten, allmähliche Zermürbung durch Schlafentzug, Einsamkeit und unablässig Verhöre. Tatsachen jedenfalls ließen sich nicht verheimlichen. Die ließen sich durch Fragen erhalten und durch Folter herauspressen. Doch wenn es nicht das Ziel war, am Leben, sondern ein Mensch zu bleiben, was änderte das letztlich groß? Die Gefühle konnten sie nicht ändern, das konnte man ja nicht einmal selbst, auch wenn man es wollte. Was man getan, gesagt oder gedacht hatte, das konnten sie alles bis ins Kleinste aufdecken, das Innerste aber, dessen Funktionsweise sogar einem selbst ein Rätsel war, das blieb unangreifbar.“
George Orwell, 1984, Insel, 2021, übersetzt von Eike Schönfeld, S. 223
… ich hänge noch immer in der Lektüre von 1984 fest … kann man so sagen … immer wieder suche ich mir einzelne Szenen heraus, über die ich eine Nacht lang nachgrüble … hier eine aus der Übersetzung von Eike Schönfeld, die in der bisherigen Betrachtung vielleicht etwas kurz gekommen ist …
… Was mich an diesem Auszug so schockiert, ist die Trostlosigkeit der wiederholten Lektüre … warum das? … Ich mochte Orwell beim ersten Lesen damals am Ende der Passage so gerne recht geben, aber er zeigt am Ende seines Buches, dass auch das möglich ist: Nichts bleibt in 1984 unangreifbar, selbst die Liebe nicht, selbst das „Menschbleiben“ nicht. Menschen sind so verdammt beeinflussbar. Es muss nicht einmal durch Folter geschehen, möchte ich 2021 hinzufügen …
… in einer zweiten Szene schildert Orwell, wie während einer Propagandaveranstaltung, während einer Rede des Funktionärs, während eines einzigen Satzes sich die Tatsachen zu ändern scheinen, auf denen die Propaganda fußt: Ozeanien liegt plötzlich nicht mehr mit Eurasien im Krieg, sondern von einer Sekunde auf die andere wird der Krieg mit der anderen Partei, dem ehemaligen Verbündeten Ostasien propagiert. Mit Eurasien sei man doch schon ewig verbündet! … Alle Fakten werden in ihr Gegenteil verkehrt … die Maschinerie der Vergangenheitsfälschung wird wieder angeworfen … die Vergangenheit wieder einmal getilgt, ersetzt … die Lüge durch eine weitere Lüge ausgetauscht …
… Beeindruckend allerdings, wie schnell das geht … wie innerhalb eines Moments die Meinung der Menschen manipulierbar ist … Während der Rede des Funktionärs nehmen es die Menschenmassen hin. Der Redner beendet den Satz im Lichte der neuen Fakten, der neuen Wahrheiten … Wir liegen im Krieg mit Ostasien! … war nie anders … wer anderes behauptet, ist Staatsfeind! … wer anderes denkt … Gedankenverbrecher! … Fakten werden zu Lügen … Lügen zur Wahrheit … und obwohl alles noch vor einer Sekunde das Gegenteil zu sein schien … es wird von den Menschen, die dem Redner euphorisch zujubeln, geglaubt … alte Plakate werden von den Wänden gerissen … Fake News! … nieder mit der Feindpropaganda! … es lebe die Partei! … es lebe der große Bruder! … Wahrheit mit einer Halbwertszeit von Sekunden …
… kommt uns irgendwie bekannt vor?
Kaspar Hauser
Kaspars Gedankengang VI
… Bücher, die ich schon einmal gelesen habe, … warum lese ich die eigentlich ein weiteres Mal? … Bei 1984 ist die Antwort auf den ersten Blick banal. Es gibt 2021 acht Neuübersetzungen ins Deutsche … ob die Verlage glauben, dass ich diese nun alle lesen muss, konnte mir mein Buchhändler nur schmunzelnd beantworten …
… zwei Übersetzungen scheinen mir interessant zu sein:
George Orwell – 1984 Übersetzt von Frank Heibert S. Fischer, 2021, 432 S. ISBN 9783103900095
George Orwell – 1984 Übersetzt von Eike Schönfeld Insel Verlag, 2021, 382 S. ISBN 9783458178767
Erstere ist im Präsens übersetzt und weicht damit stilistisch erheblich vom Original ab. Ich hätte das ehrlicherweise eine Übertragung genannt … ob die Begriffe Übersetzung / Übertragung in getrennter Bedeutung so üblich sind, wie ich es empfinde, weiß ich allerdings nicht …
… Es stört mich etwas, mich an das Präsens zu gewöhnen … ich habe das Übersetzer-Nachwort bewusst noch nicht gelesen, weil ich mir erst einen eigenen Eindruck von der Idee machen möchte, die für mich auf der Hand liegt. Diese Form rückt den Stoff näher an die heutigen Leser*innen heran, in ihrer aktuellen Problematik …
… Es ist kein Geheimnis, dass viele 1984 als ein Buch betrachten, das auch heute noch nicht an Aktualität verloren habe. Dass Orwell 1984 als Kommunismuskritik geschrieben hat, geht da etwas verloren. Für heutige Leser*innen stehen vielleicht die totalitären Mechanismen im Vordergrund, wie sie sicherlich in allen autoritären Regimen vorkommen können … welcher Ideologie auch immer. Da merkt man dem Buch – aus heutiger Sicht gelesen – auch gleich die „Schwächen“ an. Visionär beschreibt Orwell das Prinzip: Überwachbarkeit des Einzelnen bis ins Alltägliche, Kontrolle von Meinungs- und Gedankenfreiheit, Kontrolle durch das soziale Umfeld, Fälschung von Fakten, bis hinein in die Geschichte, etc. … Das alles wirkt heute, mit unseren technischen Möglichkeiten der Mediengesellschaften, die Orwell noch nicht kannte, viel bedrohlicher.
… Fast altbacken wirkt es, wenn sich Winston Smith von den Augen des Großen Bruders überall verfolgt fühlt. Da hängen nahezu überall die Plakat mit der legendären Aufschrift Big Brother is watching you. Fast überall Mikrofone, Kameras, Telemonitore (ein Wort, das wie eine Antiquität klingt) … letztere senden nicht nur, sondern sie empfangen auch, was Winston in seiner Wohnung tut und sagt. Das geht so weit, dass Winston bemüht ist, stets seine Mimik zu kontrollieren, nicht nur, weil ihn die Technik sieht und hört, sondern auch jeder Kollege ein Spitzel des Großen Bruders sein könnte … die Welt ist voller Misstrauen …
… das ist gleichfalls die Stärke des Buches, noch heute … es offenbart die Prinzipien des Totalitären, egal wie wir sie technisch umgesetzt sehen … heute nennen wir das Sprachassistenten, Smartphone-Technik, Social Media, Datenkrake, usw. … neutrale technische Möglichkeiten … aber wer sie missbrauchen will, kann es tun … die Prinzipien der Kontrolle sind dieselben … das totalitäre Prinzip erkennbar … offengelegt …
… ich habe 1984 als Schüler zum ersten Mal gelesen und war begeistert. Ich bin es heute auf ernüchterte Weise erneut. Wie das in den beiden Übersetzungen zum Tragen kommt – ich habe mir auch noch eine englische Fassung besorgt – wird sich zeigen …
… Ich bin gespannt …
Kaspar Hauser
Kaspars Gedankengang V
… noch einige Gedanken zu Dave von Raphaela Edelbauer. Es hat mich dazu inspiriert Das flüssige Land von ihr hervorzuholen und in Sichtweite zu legen. Mich interessiert, ob sich der Stil, den sie in Dave verwendet, dort wiederfindet. Ich mag Autoren, die ihren Stil dem Sujet anzupassen verstehen und sich nicht darum scheren, ob Verleger und Leser dann maulen …
… die Frage beantworten, ob Dave eine Utopie ist oder eine Dystopie … eindeutig eine letztere … den eigentlichen Clou des Romans kann ich nicht verraten, obwohl man schnell merken wird, dass mit dem Erzähler des Buches etwas nicht stimmt … mit der Sprache stimmt eigentlich alles, auch wenn ihr nicht immer leicht zu folgen ist, … aber Raphaela Edelbauer nimmt ihren Stoff ernst und das spiegelt sich auch in der Art, wie sie schreibt … einige Stellen sind philosophisch durchdrungen, was mir gut gefällt … man sollte sie dann mehrfach lesen und das Zurückblättern nicht scheuen … Thema, neben dem auf der Hand liegenden der künstlichen Intelligenz (KI) und einer Welt, die durch diese geprägt sein könnte, ist die Frage nach dem Bewusstsein, der Frage, ob eine KI sich bewusst werden könne … dabei kam mir an vielen Stellen wieder die Frage nach der Verantwortung des Schöpfers in den Sinn … das verbindet das Werk mit Büchern wie Frankenstein (Mary Wollstonecraft Shelley) aber auch Ishiguros Klara und die Sonne …
… das Buch entwickelte für mich einen Sog, dem ich mich schlecht entziehen konnte, auch in schwierigeren Passagen … zum Ende hin forciert die Autorin ein sprachliches Feuerwerk, das einen am eigenen Verstand zweifeln lässt … man weiß nicht mehr, wer wer und wo er ist … gemäß des kartesischen Grundgedankens ist die Welt der Wahrnehmung eben keine sichere, festgefügte, keine objektiv betrachtbare … ist es aber das ICH? … Ist hier jemand, weil er denkt? … ich finde das wirklich gelungen … nochmal lesen! …
… ist das Buch ein Science Fiction? Immer mal wieder werde ich nach guter Horrorliteratur gefragt und dann gehen mir natürlich auch Buchempfehlungen wie E.A. Poe, Mary Wollstonecraft Shelley und Bram Stoker durch den Kopf. Ich würde mich ja zurückhalten, sie so zu nennen … sie sind mehr … Ist Dave also ein Science Fiction? All diese Werke sind viel größer, als das populäre Genre, in das man sie stopft. Gute Science Fiction – wenn wir sie so nennen wollen – ist mehr als das. Ishiguros Buch (Klara) würde ich gar nicht erst so nennen. Dave passt sicherlich in diesen Begriff, auch wenn es ihn sprengt. Es sind nicht die Szenen einer irgendwann stattfinden Zukunft … Es sind die Fragen, die wir uns heute stellen … die wir beantworten müssen … die besten Science Fiction-Romane sind Gegenwartsromane, die mit ihren Gedanken eine Zukunft anmahnen, die uns bevorsteht, wenn wir auf diese Fragen keine Antwort finden wollen oder können …
Kaspar Hauser
Kaspars Gedankengang IV
… abends lese ich gerne noch ein paar Gedichte vor dem Einschlafen. Für die kurze Form ein wunderbarer Moment … Wenn sie mir gefallen, lese ich sie mehrfach, langsam, Wort für Wort … und ihren Klang nehme ich hinüber in den Schlaf.
Seit einigen Wochen liegt das Buch der Lieder von Heinrich Heine auf meinem Nachttisch. Ich habe es schon häufig gelesen oder darin geblättert, weil ich ein bestimmtes Gedicht gesucht hatte und dann jene rechts und links wieder entdeckte. Im besten Falle lese ich seine Gedichte laut, um ihren Klang selbst zu hören, … mitzubekommen, was meine Stimme und Heines Worte in mir anrichten … diesmal die Düsseldorfer Ausgabe:
Heinrich Heine Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Düsseldorfer Ausgabe Hrg. von Manfred Windfuhr Hoffmann und Campe, 1975 ISBN 3-455-03001-7
Die ersten Gedichte der Ausgabe fallen mir zu leicht, ich lese sie so weg … frage mich, warum … stocke … mir wird klar, dass ich nicht mehr mit dem Bezug lese, den ich noch als Schüler dazu hatte … hatte ich? … Lese alte Tagebücher und fühle mich bestätigt. Damals noch eine deutliche Hinwendung zu einer „düsteren“ Romantik. Aber Heines Ton der frühen Gedichte, die sich noch an die Romantik anlehnen, sagen mir kaum noch etwas … sie bleiben nicht mehr hängen … Auch scheinen mir, die Gedichte zielen weniger auf eine Veröffentlichung in einer Buchausgabe. Vielleicht hatten sie eine andere Wirkung, hier und da gelesen in Zeitschriften und Journalen, in denen sie Heine vorher veröffentlichte …
Im Vorwort betont Heine die chronologische Anordnung im Buch der Lieder und das er später immer wieder hier und dort eine kleine Änderung vorgenommen habe. In der Düsseldorfer Ausgabe stehen sich dann Gedichte letzter Hand des Buchs der Lieder und die Formen der gleichen Gedichte, wie er sie in Zeitschriften drucken ließ, auf den Seiten direkt gegenüber … spannend, weil man sehen kann, was er dann noch änderte. In der Regel Kleinigkeiten, die den Ton nicht variieren … Ich denke dann darüber nach, was ihn zu dieser oder jener Abwandlung bewogen hat … Manchmal eine Idee dazu, manchmal auch keine … Seltener fallen einzelne Strophen weg. Das ist dann schon auffallend und lässt Raum für Interpretationen …
… überhaupt die Vorworte Heines … Mir kommt die Idee, einmal etwas nur über die Vorworte seiner Bücher zu schreiben. Das ist ein Genuss für sich.
„(…) Nicht ohne Befangenheit übergebe ich der Lesewelt den erneueten Abdruck dieses Buches. Es hat mir die größte Ueberwindung gekostet, ich habe fast ein ganzes Jahr gezaudert, ehe ich mich zur flüchtigen Durchsicht desselben entschließen konnte. Bey seinem Anblick erwachte in mir all jenes Unbehagen, das mir einst vor zehn Jahren, bey der ersten Publikazion, die Seele beklemmte. Verstehen wird diese Empfindung nur der Dichter oder Dichterling, der seine ersten Gedichte gedruckt sah. Erste Gedichte! Sie müssen auf nachlässigen, verblichenen Blättern geschrieben seyn, dazwischen, hie und da, müssen welke Blumen liegen, oder eine blonde Locke, oder ein verfärbtes Stückchen Band, und an mancher Stelle muß noch die Spur einer Thräne sichtbar seyn… Erste Gedichte aber, die gedruckt sind, grell schwarz gedruckt auf entsetzlich glattem Papier, diese haben ihren süßesten, jungfräulichsten Reitz verloren und erregen bey dem Verfasser einen schauerlichen Mißmuth. (…)“
Heinrich Heine Vorrede zur zweiten Auflage (obige Ausgabe, S. 563)
Scheinbar ging es ihm nicht anders als mir? … Ich will mir das nicht anmaßen, zu denken, habe es aber schon getan …
Dieser Ton der Vorworte ist der Heine-Ton, den ich so schätze: ironisch, auch selbstironisch, der Ton eines Spötters, der kein Blatt vor den Mund nahm und sich bestimmt nur selten etwas vormachen ließ …
Dieser Ton ist in den späteren Gedichten des Bandes schon vernehmbarer … so wunderte es mich nicht, dass ich seine Nordseegedichte dann mit viel größerer Lust las, als früher … habe mir einige herausgeschrieben, die von mir bisher nur wenig Beachtung gefunden hatten … dafür hat es sich gelohnt, wie es sich immer lohnt, ein altes Buch, auch zum wiederholten Male zur Hand zu nehmen … die Musik bleibt nie dieselbe … und bei Heinrich Heine war es bestimmt nicht zum letzten Mal …
Kaspar Hauser
Kaspars Gedankengang II
… Gedanken kommen mir in die Quere. Gestern in einer literarischen Mußestunde Jon Fosse gelesen. Kleinere Szenen fürs Theater und Prosastücke aus dem Buch, das mein Buchhändler für mich aufgestöbert hatte …
Jon Fosse – Kindheitsszenen mit Holzschnitten von Olav Christopher Jenssen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel Kurzprosa, Kleinheinrich, 2019, S. 182 isbn/ean: 9783945237267
… seit Jahren lese ich alles von Fosse, was Hinrich Schmidt-Henkel ins Deutsche überträgt. Fosse ist einer der Autoren, die mich nachhaltig beeinflusst haben. Eine ruhige und klare Sprache, wie er sie selbst nennt. In den Theaterstücken ist die Pause und die Sprachlosigkeit tragendes Element, in der Prosa sind Pausen ungleich schwieriger einzusetzen. Gedanken kreisen, wiederholen sich, sind aber dennoch nie gleich, weil sie sich im Vergehen der Zeit – und sei die Spanne noch so kurz – verändern … Fosses Sprache wird für mich zu einem Sog, getragen von der Musikalität, die er mit den wenigsten, einfachsten Worten zu erzeugen versteht … wie sich Menschen versuchen näher zu kommen, stumm werden, trotz der Worte, die sie füreinander haben …
… die Kindheitsszenen sind wunderbar, ich lese hier eine, dort eine, schaue die Holzschnitte von Jenssen an … Pause … schlage das Buch wieder auf, lese weiter … Asle hat noch nie ein Buch gelesen und entdeckt die Sprache für sich; Jon Fosse benötigt dafür sieben Zeilen … Großmutter liegt in einem Bett, sie kann nicht mehr reden, der Erzähler versucht, ihr nahe zu sein, er fragt sie … und sie versucht, zu antworten, versucht, ihre Lippen eine Antwort formen zu lassen … dann muss ich das Buch für einen kleinen Moment schließen … es wirken lassen … pausieren … ein alter Mann hört den jungen Asle bei der Bandprobe im Jugendfreizeitheim spielen, sie finden nur beiläufig Worte für die Musik und verstehen sich am Ende doch … hier gelingt Kommunikation über die Musik, tatsächliche oder in der Sprache angelegte …
… ein Leseerlebnis, dank meines Buchhändlers. Das hätte ich nie online aufgestöbert. Eine Verbeugung vor dem kleinen Buchladen mit Sachverstand, Kundenkenntnis und Beratung … schön, dass es euch gibt …
Kaspar Hauser
Aus dem Block …
Auftrittsimpressionen
Hier einige Impressionen unseres Auftritts am 09. September 2023:
Die Vorlesewerkstatt war ein Projekt der Aktion „Herford liest ein Buch“, initiiert und organisiert vom Förderverein der Stadtbibliothek Herford, Buch.Bar.
hinten: Michael Helm | Lennard Haubrich | Jan-Hendrik Lobstein | Lennert Waletzko vorne: Maximilian Holtkamp | Anabel Koop | Emily Pautz | Maliha Ahmed
Sechs Wochen hatten die Jugendlichen aller Herforder Schulen an Texten zum Erwachsenwerden in den 1980ern und den 2020ern gearbeitet, ein Coming Of Age zweier Jahrzehnte. Die Lesung war unsere Abschlussveranstaltung in der Stadtbibliothek Herford.
Hat Spaß gemacht. Danke an alle!
Die „Unschärferelation der Liebe“
Die Heisenbergsche Unschärferelation. Selten erlebe ich, dass ein physikalischer Satz zum Titel eines Films wird. Und ich mag diesen Film, den ich jetzt bereits zum zweiten Mal geschaut habe. „Die Unschärferelation der Liebe“ von Lars Kraume basiert auf dem Theaterstück von Simon Stephens.
Ich gehe erst in letzter Zeit wieder etwas öfter ins Kino. Das liegt ausnahmsweise einmal nicht am bösen C-Wort der letzten Jahre. Ich mag lieber das Theater, verbringe viel Zeit dort und wenig im Kinosaal. Caroline Peters und Burghart Klaußner sah ich daher vor Jahren im Düsseldorfer Schauspielhaus. Das Stück hieß Heisenberg. Das faszinierte mich mehrfach. Die beiden Bühnenakteure mag ich sehr, das wäre Grund genug gewesen. Aber Heisenberg?
Erinnerungen an mein Studium: Wenn man kleinste Teilchen genau beobachten möchte, verliert man sie aus dem Blick. Genauer, indem man sie beobachtet, verändern sie ihre Eigenschaften, die wir doch beobachten wollten. Das heißt, durch unsere Beobachtung verändern wir das, was wir beobachten möchten. Jedem kommt das als der „Beobachtereffekt“ bekannt vor. Wir können nicht als anwesender Beobachter keinen Einfluss auf die Situation nehmen. Schüler*innen und Referendar*innen spüren das übrigens sehr genau, wenn hinten in der Klasse eine Prüfungskommission sitzt, die den Unterricht beurteilen soll. Diese Menschen dort hinten sehen alles, nur keine realistische Unterrichtssituation. Nur weil sie anwesend sind.
Nun ist das auf der physikalischen Teilchenebene etwas … nun ja, infinitesimaler. Und Heisenberg hatte sicherlich keine Lehramtsprüfung im Kopf, als er seinen Satz von der Unschärferelation formulierte. Aber vielleicht dachte er schon einmal darüber nach, wie zwei Menschen einander betrachten, als wären es zwei Teilchen, die versuchten das jeweils andere näher zu bestimmen. Da wird Physik zur Philosophie. Da wird ein physikalischer Satz zum Filmtitel. Spannend.
Wie zwei Teilchen bewegen sich Alexander und Greta im Film umeinander. Zuerst will sie ihm nahe sein und bedrängt ihn. Sie redet und redet, flunkert und brilliert mit ihren Geschichten. Witziger als Caroline Peters kann man das nicht darstellen. Es lohnt sich aber, hin und wieder, den Blick von ihrer sprühenden Art zu Spielen abzuwenden und Burghart Klaußner zu beobachten. Zuerst ein Fels in der Brandung, in dem Versuch unbewegt zu sein. Als über Siebzigjähriger bringt einen eine junge Frau doch nicht mehr aus der Bahn, oder? Wie sich Alexander mehr und mehr von ihr berühren lässt: Sie ist da, sie lässt ihn nicht mehr los. Er kann nicht unbeeindruckt sein. Das spielen die beiden Akteure wunderbar aus.
Zwei sehr unterschiedliche Menschen begegnen sich, versuchen, einander nahe zu sein. Sind, wie sie sind. Sind im Augenblick schon ein Teil der Situation, die durch den anderen mitbestimmt wird. Braucht es eigentlich auf der Bühne noch mehr? Oder im Film, wo man ihren Gesichtern, ihren Augen so nahe zu kommen glaubt, wie sonst nie. Was sehen wir in diesen beiden Augenpaaren?
Das ist das faszinierende an dem Film. Ich würde ihn noch einmal schauen und wieder etwas ganz anderes betrachten. Wir können nicht unbeeinflusst schauen, vor allem nicht, wenn Burghart Klaußner und Caroline Peters uns, gleich einem physikalischen Teilchen, aus der Bahn werfen.