Am 10. September 2000 war sie, die erste Lesung in der Stadtbücherei Spenge. „Literatur zum Schmunzeln“. Fragen Sie mich nicht, wie wenig Leute damals zur Lesung gekommen sind.
Die Lesungen „Zwischen den Zeilen“ in der Stadtbücherei Spenge gibt es 2020 seit zwanzig Jahren. Ein Grund zu Feiern und sich zu erinnern. In einer kleinen Serie möchte ich hier an ein paar besondere Augenblicke zurückdenken.
Ich erinnere mich aber an die alte Bücherei. Nicht einmal das Gebäude existiert heute noch. Die Regale mussten zur Seite geschoben werden, Stühle getragen und aufgestellt und alles musste vorbereitet sein, um auch Sekt, Saft & Co. zu reichen. Ich wollte ja nicht nur lesen, sondern auch nett mit den Gästen über Literatur plaudern. Die Gläser transportierten wir jedesmal vor der Lesung in die Bücherei und im Anschluss wurden sie in einer gemeinsamen Aktion in der kleinen Küche wieder abgespült. Es waren nette literarische Gespräche beim Abtrocknen, an die ich mich gerne erinnere. Der Nachklang zur Lesung in der Küche des Bürgerzentrums.
Jubiläumslesung | 20 Jahre „Zwischen den Zeilen“ Musikalische Lesung mit Stefan Kallmer (Klarinette, Saxophon, E-Piano, Gesang); Texte aus 20 Jahren mit Michael Helm 30.09.2020 | 19.30 Uhr | Stadtbücherei Spenge | Infos
Überhaupt ist es Frau Rickert – der damaligen Leiterin der Bücherei – zu verdanken, dass es die Lesungen immer wieder gab. Was in Düsseldorf allsonntäglich funktionierte, musste sich in Spenge ja erst einmal rumsprechen. Erst gab es drei Lesungen im Halbjahr, später wurden es vier im Jahr. Den Sonntag als Veranstaltungstag haben wir in Spenge schnell wieder aufgegeben. Zu groß die Konkurrenz des heimischen Gartens.
Nach der ersten Lesung sagte Frau Rickert dann mitleidsvoll zu mir: „Es hat den Leuten gefallen …, wirklich.“ Ich stutzte. „Sie zeigen es ja nicht so, die Ostwestfalen, aber glauben Sie mir. Die fanden das richtig gut … Das ist nicht Düsseldorf.“ Dabei musste sie selbst lachen.
Sie hatte das sicherlich nicht zum ersten Mal zu einem Künstler aus der Fremde gesagt. Und Düsseldorf kam mir damals schon wirklich ziemlich weit und fremd vor, obwohl ich noch immer wöchentlich mit Rolf Fuchs auf der Bolkerstraße im Heinrich Heine-Geburtshaus auftrat. So manche Lesung mit identischem Text hätte an den beiden Orten unterschiedlicher nicht aufgenommen werden können. An der Bolkerstraße Schenkelklopfen, in Spenge ein herzlich-heimliches Schmunzeln.
Es war das erste Mal, dass ich ahnte, wo ich hingezogen war: nach Ostwestfalen, an den Teutoburger Wald. Aber den hatte doch schließlich Heinrich Heine schon in seinem Wintermärchen besungen, wenn der auch nicht gerade gut weggekommen war. Aber das gilt ja auch für Köln, Göttingen, Hamburg, etc. Das muss noch nichts heißen, dachte ich mir.
Frau Rickert hatte Geduld mit mir und recht dazu. Denn die Leute kamen wieder. Und es wurden mehr. Wir zogen im damaligen Bürgerzentrum in den kleinen Veranstaltungsraum um. Der Raum lag neben dem Saal und hatte den Charme eines Konferenzraums. Aber immer wieder bekamen wir zu hören, wie nett wir den hergerichtet hätten. Manche erkannten ihn gar nicht wieder. Selbst eine Schultafel hätte ich nutzen können, wenn ich gewollt hätte. (Beamer gab es da ja noch nicht!)
Ein Teil meines Herzens ist ostwestfälisch geblieben
Ich weiß gar nicht, was ich ohne die Ausdauer und Freundlichkeit des damaligen Teams gemacht hätte. In Ostwestfalen habe ich gelernt, was es bedeutet, beharrlich zu sein. Manch einer nickte mir erst verstohlen grüßend zu, als er mich zehn Jahre lang kannte und ich schon auf gepackten Koffern ins Ruhrgebiet saß. „Wie, Sie ziehen fort? Warum denn?“, fragte er dann. Ich tröstete: „Die Lesungen bleiben Ihnen doch weiterhin erhalten.“
Es kamen dann Leute, die ich vorher nie bei den Veranstaltungen gesehen hatte. Selbst Engeraner, Herforder und Bielefelder überschritten mittlerweile die Stadtgrenzen. Und ich reiste für jede Lesung aus Herdecke an. Die waren jetzt im schmucken Neubau der Bücherei. Und da hörte ich eines Tages den Satz:
„Schön, dass Sie unsere Lesungen hier weitermachen. Sie sind schließlich auch ein Ostwestfale, ein Spengeraner.“
Ich konnte den Herzen der Ostwestfalen nicht mehr entkommen. Und sie haben ja recht. Ein Teil meines Herzens ist ostwestfälisch geblieben, bis heute. Da soll Heine nur mal kommen …
Michael Helm
Jubiläumslesung
Am 30.09.20 ist die große Geburtstagslesung in der Stadtbücherei Spenge. 20 Jahre „Zwischen den Zeilen“ müssen gefeiert werden. Nach allen Regeln in Corona-Zeiten, aber gefeiert. Mit an meiner Seite wird Stefan Kallmer (Klarinette, Saxophon, E-Piano, Gesang) sein. Und es wird eine Überraschungslesung mit Texten aus 20 Jahren Lesungen in Spenge.
20 Jahre „Zwischen den Zeilen“ Stadtbücherei Spenge | 30.09.20 | 19.30 Uhr Karten gibt es unter 05225 6322 und nur im Vorverkauf!
Aus dem Block …
Der Fremde
gesprochen von Ulrich Matthes
Meursault eine Stimme geben? Wer könnte das besser als Ulrich Matthes. Nach meiner Camus-Lektüre in den vergangenen Wochen, habe ich mir „Der Fremde“, gesprochen von Ulrich Matthes, angehört. Bei Hörbüchern bin ich sehr zurückhaltend. Ich mag einige sehr bekannte deutsche Hörbuchsprecher überhaupt nicht. Zu einer Stimme, auf die ich mich stundenlang einlasse, habe ich eine besondere Beziehung. Das muss passen. Das ist nicht zu begründen. Das ist eine Bauchentscheidung. Matthes passt.
Seiner Stimme kann ich zuhören, auf dem Sofa, auf einem Spaziergang, auf dem überfüllten Bahnsteig. Ich verliere nicht den Faden, wie es mir bei anderen häufig passiert. Er hält mich immer im Stück.
Camus´ Werke zu sprechen, insbesondere den Fremden, Meursault, ist eine besondere Herausforderung. Ulrich Matthes hält sich zurück, gibt dem Text genau die lakonische Stimmung, die er braucht. Gleichzeitig wirkt die Stimme in den Detailbetonungen nie monoton. Es entstehen Bilder beim Hören, wie sie mir selbst beim Lesen nicht gekommen waren, obwohl ich bei der Lektüre viel mehr Zeit hatte. Rhythmus, Tempo, Pause, das alles wird wunderbar in eine Stimme gebracht, wie ich sie mir für Meursault vorstelle. Diese Stimme bleibt in meinem Kopf. Dank des Autors, dank des Sprechers.
mh
24.08.1922 – Tucholsky vor einhundert Jahren
„Wir sind fünf Finger an einer Hand“, schreibt Kurt Tucholsky in einem Artikel der Weltbühne 1922. Die fünf aus dem Zitat, das sind Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Kurt Tucholsky selbst. Tucholsky ist eigentlich kein Pseudonym, aber unter all diesen Namen veröffentlichte er in den verschiedenen Zeitungen. Und der Name Tucholsky trollte sich eben wie ein solches im Reigen der anderen Pseudonyme. Zusammen hatten sie die Schlagkraft, die der 1890 in Berlin geborenen Tucholsky aufbringen musste, um gegen die Missstände in der jungen Weimarer Republik anzuschreiben, für die Freiheit und für die Demokratie. „Wir alle Fünf lieben die Demokratie.“
Wir alle Fünf von Kurt Tucholsky
Die rechtsstehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als »den vielnamigen Herrn« hinzustellen, »der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt«. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma.
Aber wir stammen alle Fünf von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm.
Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte Original-Deutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offiziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereit halten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste Kavallerie-Wachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, dass man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den ›gemeinen Mann‹ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Kommis.
Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht ›gleich‹ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest.
Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf.
Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, dass es schallt, und dass die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke.
Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.