Michael Helm

Lektüreempfehlungen

Aufgelesenes II

Seit meiner letzten Notiz hier auf dem Block bekomme ich Zuschriften mit Lektüreempfehlungen auf Rezept. Von Homers Ilias bis Stephen Kings Mr. Mercedes ist alles dabei. Ich frage mich allerdings, wie mich das Gemetzel um Troja oder der wahnsinnige Selbstmordattentäter mit Nobelkarosse heiter in den Schlaf bringen sollen. Also ich befürchte, da würde mir meine Ärztin doch wieder Die Verwandlung auf den Nachttisch legen wollen. Da wird ein Ungeziefer schlimmstenfalls mit Äpfeln beworfen.

Ungeziefer bei Seite. Als lesenswert entpuppte sich am Wochenende dann folgendes Buch: Unter den Menschen von Mathijs Deen. Ein schmales Büchlein von knapp hundertneunzig Seiten im Mareverlag. Der Autor war mir bislang unbekannt. Jetzt, wo ich angebissen habe, stelle ich jedoch fest, dass es von dem Menschen kaum noch weitere Übersetzungen aus dem Niederländischen gibt. Man, man, man …
Also Herr Andreas Ecke (seines Amtes Übersetzer) machen Sie hin! Jetzt ist Zeit, nicht nur zum Lesen … ;)

PS. Liebe Block-Leser,
vielen, vielen lieben Dank für die Lesehilfen. Allein die Zuschriften haben mich besser schlafen lassen. Und fällt euch auf, ich habe das C-Wort gar nicht gebraucht. Geruhsame Nacht!
Euer

mh

Aus dem Block …

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.

Jon Fosse bekommt Literaturnobelpreis

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