Michael Helm

Benedict Wells – Hard Land

Es gibt eine Stelle im Buch, die mich an einen Essay von Kleist erinnert: „Über das Marionettentheater“.

„Sie waren alle so unterschiedlich in ihren Rollen. Ich stellte mir vor, dass das eigene Ich aus vielen Puppen bestand, aus mutigen und ängstlichen und stillen und lauten, und überall hingen die Fäden. Doch man konnte nie sehen, wer sie in der Hand hielt. Wer der innere Puppenspieler war.“

(Benedict Wells, Hard Land, Diogenes, 2021, S. 172)

Das geht Sam an seinem sechzehnten Geburtstag durch den Kopf.

Im Moment der Kindheit befinden wir uns wie in einem Zustand einer „natürlichen“, unreflektierten Anmut. Im Übergang zum Erwachsenenalter beginnen wir diesen Zustand zu reflektieren. Beginnen uns selbst zu hinterfragen. Bemerken die Puppen in uns, wie sie ihre unterschiedlichen Rollen zu spielen scheinen. Wir werden ungelenk, sind uns unser unsicher, fragen, wer wir denn nun sind:

„Und ich sagte, dass ich nicht mal wisse, welches mein Ich sei: Sam, der hier am Tisch saß und gerade diese Worte sprach. Oder das unsichtbare Wesen in meinem Kopf, das Sam dabei beobachtete und alles innerlich kommentierte.
Aber was, wenn auch das falsch war? Wenn das wahre Ich eben nicht die eigenen Gedanken, Gefühle und inneren Stimmen war, sondern etwas dahinter, das man nur erahnen, aber nie ganz erwischen konnte?“

(Benedict Wells, Hard Land, Diogenes, 2021, S. 171)

Dann fällt mir das Puppenspiel ein, das ich in Berlin an der Ernst Busch-Hochschule gesehen hatte. Welch Anmut doch in diesen bewußtlosen Puppen steckt, wie sie uns im Reiz dieser Anmut faszinieren, eine Selbständigkeit zu entwickeln scheinen. Mit Kinderaugen folgen wir ihrem Spiel. Und doch werden sie von etlichen Menschenhänden bewegt. In eine eingeübte Harmonie gebracht. Ein Akt, der die Puppenspieler hinter der Puppe in deren künstlerisch erschaffenem Wesen vereint?

Benedict Wells – Hard Land

Ich bin durch die Aktion in Herford – „Herford liest ein Buch“ – darauf aufmerksam geworden und lese es zur Vorbereitung für meine Projekte (Vorlesewerkstatt, Schreibwerkstatt) gerade zum zweiten Mal.

Es ist eine „Coming Of Age“-Geschichte. Der fünfzenjährige Sam erzählt von der kurzen Zeit des amerikanischen Sommers 1985. Prägende Ereignisse spielen sich in diesen wenigen Wochen ab. Die Erkrankung und der Tod seiner Mutter. Die schwierige Beziehung zum Vater. Die erste große Liebe. Freundschaft. Der Umgang mit der eigenen Schüchternheit, mit Selbstbild und Außenwahrnehmung. Das sind wichtige Themen in diesem Buch. Es jagte mir beim ersten Mal einen Frösteln über den Rücken.

Für Erwachsene funktioniert dieses Genre im Sinne eines Rückblicks. Es kommen die vielen Erinnerungen an die eigene Jugend hoch, die Nahtstelle, das Übergehen zum Erwachsenwerden, das sich meist natürlich nicht in wenigen Wochen vollzog. Das ist ein geschickter Kunstgriff. Und nichts wirkt vielleicht eindrücklicher, als die Jugenderinnerungen der Leser*innen zu beschwören, vor allem, wenn sie selbst in den 80ern aufwuchsen.

Ich bin allerdings überrascht, dass es mir beim zweiten Lesen wieder so ergeht. Vorgewarnt sozusagen. Ich bin überrascht, wie tief manche dieser Bilder auf mich wirken, als wären sie aus meinem Leben herausgeschrieben. Dazu brauche ich nicht in meinem Tagebuch blättern, das beweist allein meine körperliche Reaktion auf diese Szenen. Gänsehaut. Wenn Sam wütend das Kino verlässt, gereizt das Mädchen anschnauzt, für das er irgendetwas empfindet … fortgelaufen, alleine die trockene Erde zwischen den Fingern zerquetscht und die Welt anschreit, presst und schreit. – Wenn Kirstie nachts neben Sam auf der Friedhofsbank sitzt, zuhört, versteht, wo sonst niemand wäre, mit dem Sam reden könnte.

„Kirstie sagte nicht ›Alles wird gut‹ oder so einen Quatsch, sondern starrte mich einfach nur wortlos und entschlossen an, während ich ihre Hände an meinen Wangen spürte. Als schlössen wir einen Pakt. Dann ließ sie mich los und verabschiedete sich.“

(Benedict Wells, Hard Land)

Ich bin sehr gespannt.

Aus dem Block …

Klassik trifft Rock, schon wieder?

Diese Frage könnte man sich stellen. Rock, Hard Rock, Pop, viele Musiker*innen haben mittlerweile mit bekannten Orchestern zusammen gespielt, live. Die Aufnahmen gab es dann auf CD oder auf allen anderen Kanälen zu hören. Die Ergebnisse waren sehr unterschiedlich. Mit einer Ausnahme, nämlich bei Metallica, fand ich sie nicht unbedingt beeindruckend.

Bei New Model Army ist das etwas anderes. Sie spielten mit Sinfonia Leipzig zusammen. In Leipzig fand das Konzert auch statt. Jetzt kann man die Aufnahme als „Platte“ hören. Ich bin begeistert.

Es bleibt der Sound der Band, das finde ich wichtig. Oft nimmt sich das Orchester angenehm zurück, um dann im Detail wunderbare Klangbilder zu schaffen, die das Stück tragen, begleiten oder ihm eine kleine Nuance verleihen, die ich vorher nicht entdeckt hatte. Es sind Stellen, in denen das Orchester Passagen der Songs mit klassischen Mitteln interpretiert, als wären die Stücke dafür geschrieben. Da wird nicht gezaubert, da produziert sich niemand vor dem anderen. Die New Model Army-Songs, ob alt oder jung, geben auch orchestriert ein unglaublich stimmiges Bild ab. Auch wenn die zwei musikalische Welten sehr weit voneinander entfernt zu liegen schienen. Das gilt nicht nur für die langsameren sondern auch für die Hochtempostücke. Aus zwei musikalischen Welten wird eine einzige.

Das hätte ich gerade bei dieser Gruppe, die ich seit Jahrzehnten gerne höre, nicht unbedingt gedacht. Vielleicht war das ein Fehler, denn diese besondere Art die Songs zu spielen, scheint durchaus in der Musik New Model Armys angelegt zu sein. Schön, wenn man trotz anfänglicher Skepsis so angenehm überrascht wird.

Auftrittsimpressionen

Hier einige Impressionen unseres Auftritts am 09. September 2023:

Die Vorlesewerkstatt war ein Projekt der Aktion „Herford liest ein Buch“, initiiert und organisiert vom Förderverein der Stadtbibliothek Herford, Buch.Bar.

hinten: Michael Helm | Lennard Haubrich | Jan-Hendrik Lobstein | Lennert Waletzko
vorne: Maximilian Holtkamp | Anabel Koop | Emily Pautz | Maliha Ahmed

Sechs Wochen hatten die Jugendlichen aller Herforder Schulen an Texten zum Erwachsenwerden in den 1980ern und den 2020ern gearbeitet, ein Coming Of Age zweier Jahrzehnte. Die Lesung war unsere Abschlussveranstaltung in der Stadtbibliothek Herford.

Hat Spaß gemacht. Danke an alle!