Eine Besprechung der Musikalischen Lesung vom 08. Mai 2022 in der Stadtbibliothek Herford von Dorothee Glück.
Manch einer mag vom Gilgamesch-Epos gehört haben. Die wenigsten haben diesen fast 4000 Jahre alten Text gelesen – zu fremd, zu weit weg. Vor den Ohren der Zuhörer von Michael Helms Lesung des Epos am Sonntagmorgen in der Stadtbibliothek mit der musikalischen Begleitung von Eren Aksahin und Stefan Kallmer entstand ein wunderbar klares Bild der Geschichte des starken Königs von Uruk im Zweistromland. Um die Macht, die Willkür und die Ausbeutung seiner Untertanen einzuschränken, schaffen die Götter einen Widerpart zu Gilgamesch, den ebenso starken Enkidu. Nach einem Kampf werden die beiden Freunde und bestehen ein großes Abenteuer. Sie bleiben Freunde bis zu Enkidus Fiebertod.
Michael Helm las das Epos bis zu diesem Punkt. Die Grundlage seiner Lesung war eine gute Übertragung des Textes, den er zum besseren Verständnis leicht bearbeitet hatte. Bei der Rezitation zeigte er sein ganzes stimmliches Können. Je nach Situation und Sprecher las er langsamer oder schneller, wurde seine Stimme lauter, leiser, nachdrücklich oder beiläufig.
Ganz wesentlich trugen die beiden Musiker zur Wirkung bei. Eren Aksahin, der auch Passagen der Musik komponiert hat, spielte auf drei verschiedenen orientalischen Lauteninstrumenten und der Gitarre. Mit Stefan Kallmer an der Klarinette und Bassklarinette ergaben sich großartige Klangbilder. Die beiden hatten sich mit ihrer an die anatolische Tradition anlehnenden Musik hervorragend auf den Text eingestellt. Sie untermalten mal dissonant, mal harmonisch die Charaktere bzw. das Geschehen der Erzählung.
Es war ein Genuss, allen dreien zuzuhören. Das Publikum bedankte sich dafür mit starkem, langanhaltendem Applaus.
Wünschenswert wäre eine Fortsetzung der Rezitation mit dem zweiten Teil des Gilgamesch-Epos in dieser Besetzung.
Dorothee Glück
Aus dem Block …
vorbei
ich kann sie drehen und wenden ich finde meine komfortable ansicht der dinge nicht wieder
Jon Fosse – Melancholie
Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.
Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?
Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.
Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.
Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.