Michael Helm

George Orwell – 1984

Die nächste Lesung in Spenge behandelt das Meisterwerk von George Orwell.
 
„1984“ ist als Roman eine aktuell gebliebene Mahnung. Das Werk thematisiert die Methoden eines autoritären, technokratischen Überwachungsstaats genauso, wie die Manipulation von Fakten zur Desinformation seiner Bürger*innen oder die Kontrolle durch Sprache. Im Zentrum steht die Frage nach der Individualität des Menschen in einem autoritären Regime. Auch wenn Orwell 1948 vornehmlich die Kritik am Sowjetkommunismus vor Augen hatte, sind dies Fragen, mit denen wir uns heute auseinandersetzen müssen, wenn auch die technischen Möglichkeiten längst ganz andere geworden sind. 

"1984" ist für mich eigentlich kein Science Fiction-Roman. Orwell drehte einfach die Jahreszahl der Entstehung des Textes um. So entstand der Titel 1984 und eine der bekanntesten Dystopie der Weltliteratur.

Lesen werde ich aus der Übersetzung von Eike Schönfeld. Diese gelungene Neuübersetzung ist eine von vielen in der letzten Zeit. Auch dies ein Hinweis für die Aktualität des Buches. 

13.09.23 | 19.30 Uhr | Stadtbücherei Spenge | Infos

Kaspars Gedankengang XI

„Bei aller Schläue hatten sie das Geheimnis, was ein anderer dachte, noch nicht gelüftet. Vielleicht traf das weniger zu, wenn sie einen in der Hand hatten. Man wusste nicht, was im Liebesministerium geschah, aber vermuten konnte man es: Folter, Drogen, empfindliche Apparate, die die Nervenreaktionen registrierten, allmähliche Zermürbung durch Schlafentzug, Einsamkeit und unablässig Verhöre. Tatsachen jedenfalls ließen sich nicht verheimlichen. Die ließen sich durch Fragen erhalten und durch Folter herauspressen. Doch wenn es nicht das Ziel war, am Leben, sondern ein Mensch zu bleiben, was änderte das letztlich groß? Die Gefühle konnten sie nicht ändern, das konnte man ja nicht einmal selbst, auch wenn man es wollte.
Was man getan, gesagt oder gedacht hatte, das konnten sie alles bis ins Kleinste aufdecken, das Innerste aber, dessen Funktionsweise sogar einem selbst ein Rätsel war, das blieb unangreifbar.“

George Orwell, 1984, Insel, 2021,
übersetzt von Eike Schönfeld, S. 223

… ich hänge noch immer in der Lektüre von 1984 fest … kann man so sagen … immer wieder suche ich mir einzelne Szenen heraus, über die ich eine Nacht lang nachgrüble … hier eine aus der Übersetzung von Eike Schönfeld, die in der bisherigen Betrachtung vielleicht etwas kurz gekommen ist …

… Was mich an diesem Auszug so schockiert, ist die Trostlosigkeit der wiederholten Lektüre … warum das? … Ich mochte Orwell beim ersten Lesen damals am Ende der Passage so gerne recht geben, aber er zeigt am Ende seines Buches, dass auch das möglich ist: Nichts bleibt in 1984 unangreifbar, selbst die Liebe nicht, selbst das „Menschbleiben“ nicht. Menschen sind so verdammt beeinflussbar. Es muss nicht einmal durch Folter geschehen, möchte ich 2021 hinzufügen …

… in einer zweiten Szene schildert Orwell, wie während einer Propagandaveranstaltung, während einer Rede des Funktionärs, während eines einzigen Satzes sich die Tatsachen zu ändern scheinen, auf denen die Propaganda fußt: Ozeanien liegt plötzlich nicht mehr mit Eurasien im Krieg, sondern von einer Sekunde auf die andere wird der Krieg mit der anderen Partei, dem ehemaligen Verbündeten Ostasien propagiert. Mit Eurasien sei man doch schon ewig verbündet! … Alle Fakten werden in ihr Gegenteil verkehrt … die Maschinerie der Vergangenheitsfälschung wird wieder angeworfen … die Vergangenheit wieder einmal getilgt, ersetzt … die Lüge durch eine weitere Lüge ausgetauscht …

… Beeindruckend allerdings, wie schnell das geht … wie innerhalb eines Moments die Meinung der Menschen manipulierbar ist … Während der Rede des Funktionärs nehmen es die Menschenmassen hin. Der Redner beendet den Satz im Lichte der neuen Fakten, der neuen Wahrheiten … Wir liegen im Krieg mit Ostasien! … war nie anders … wer anderes behauptet, ist Staatsfeind! … wer anderes denkt … Gedankenverbrecher! … Fakten werden zu Lügen … Lügen zur Wahrheit … und obwohl alles noch vor einer Sekunde das Gegenteil zu sein schien … es wird von den Menschen, die dem Redner euphorisch zujubeln, geglaubt … alte Plakate werden von den Wänden gerissen … Fake News! … nieder mit der Feindpropaganda! … es lebe die Partei! … es lebe der große Bruder! … Wahrheit mit einer Halbwertszeit von Sekunden …

… kommt uns irgendwie bekannt vor?

Kaspar Hauser

Kaspars Gedankengang X

… nachdem ich 1984 von George Orwell in zwei Übersetzungen und noch einmal im Original gelesen habe, bleibt darüber nachzudenken, welche ich gelungener finde … keine Antwort möglich und ich schiebe diesen Beitrag schon Tage vor mir her … 

… Die Übertragung von Frank Heibert ist keine klassische Übersetzung. Im Nachwort begründet er einige Finessen, die er vorgenommen hat. Die auffälligste habe ich schon genannt, er überträgt Orwells Text ins Präsens. Orwell schreibt nicht in einem experimentellen Stil. Die Art wie er die Geschichte um Winston Smith erzählt, dürfte in seiner Zeit (1948) nicht ungewöhnlich gewesen sein. Das Sujet war aufrüttelnd. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, noch während des Stalinismus und nach dem Nationalsozialismus, eine derartige Dystopie zu schreiben, muss mindestens einer äußerst pessimistischen Weltsicht und Warnung gleichgekommen sein. Wie viele seiner Zeitgenossen traute er dem Frieden nicht … und ob es im kalten Krieg einen wirklichen Frieden zwischen den Großmächten gab, kann bis heute diskutiert werden … 

… In 1984 gibt es diesen äußeren Frieden zwischen den drei fiktiven Großmächten nicht und Orwell schildert, wie sich das innere Gesellschaftsgefüge in einem totalitären Staat mit Krieg, Angst, Hass und Hysterie stabilisieren lässt … dabei ist bezeichnend, dass niemand so genau weiß, ob der Krieg überhaupt ein heißer ist oder ob es sich um einen kalten Propagandakrieg handelt. Winston hat seine Zweifel … 

Inhaltlich trug das Buch damals Aufregungspotential in sich … unsere heutigen Schwerpunkte sind andere … für die Leser*innen damals dürfte die Bedrohung in Orwells Dystopie konkreter gewesen sein … für uns scheint das Meiste so nicht eingetroffen … wir schauen vielmehr bange auf die totalitären Mechanismen, die mit einer noch verfeinerteren gegenwärtigen Technik möglich geworden sind, an die George Orwell noch nicht einmal gedacht hat. Er behält recht, weil das totalitäre Prinzip, das er schildert, dasselbe geblieben ist … mit welchen technischen Finessen es realisiert wird, ist zweitrangig …

… Um das provokante Potential des Textes für heutige Leser*innen zu erhalten, überträgt es Heibert in die Gegenwart … von dieser wird sich erst im Schlusskapitel herausstellen – nämlich wenn es um die Auseinandersetzung mit Neusprech gehen wird – dass das alles längst in der Vergangenheit liegen muss. Der Roman wir dadurch unmittelbarer für uns … 

Die Übertragung Heiberts verändert den Originaltext bis in die Satzstruktur, die sich im Deutschen und Englischen natürlich unterscheiden. Bei Heiberts Übertragung hatte ich oft den Eindruck, dass diese dem im Buch propagierten Neusprech näher kommt, als in Orwells Roman. Zum Beispiel scheinen mir viele Sätze kürzer und prägnanter, als in der Übersetzung von Eike Schönfeld und selbst im Original. Das fand ich gelungen …

… Diskutieren kann man, wie bei vielen anderen Beispielen auch (z.B. Moby Dick), wie ein Übersetzer mit umgangssprachlichen Sequenzen umgeht. Heibert findet für die altenglische Sprache der „Proleten“ eine stark ans Ruhrpott-Deutsch angelehnte Ausdrucksweise … „Proleten“ sprechen in 1984 kein Neusprech, also reden sie im zeitgenössischen Englisch Orwells, also Altsprech aus der Zukunftsperspektive. Dies allerdings stark mit Slang. Solche Übertragungen zwischen verschiedenen Sprachen und mundartlichen Ausprägungen können maximal eine Näherung sein …

… die andere Übersetzung von Eike Schönfeld ist eine gelungene „klassische“ Übersetzung, die das Original bis ins Detail angemessen berücksichtigt. Sie kommt Orwell näher. Die Übertragung von Frank Heibert klingt frischer – manchmal wirkt das auf mich etwas verfremdend … letztere ist auf keinen Fall etwas für Erstleser*innen des Romans. Kennt man 1984 aber bereits, ist sie eine spannende Ergänzung in der Auseinandersetzung mit Orwells Stoff in unseren Tagen. Bei der Übersetzung Schönfelds muss man Orwells Roman in seiner Zeit berücksichtigen, was letztlich für alle Klassiker gilt … 

… besser hätte ich es im Falle der Übertragung von Frank Heibert gefunden, wenn der Verlag dies deutlich als Übertragung nach George Orwell auf dem Cover gekennzeichnet hätte …

… beide Herangehensweisen haben ihr Für und Wieder. Beide waren gewinnbringend zu lesen. Wer Englisch beherrscht, ist sowieso bei George Orwell am besten aufgehoben … auch wenn ich denke, dass die Kunst guter Übersetzer viel zu wenig Würdigung findet … im Falle dieser beiden Übersetzer sollte man es tun …

George Orwell – 1984
Übersetzt von Frank Heibert
S. Fischer, 2021, 432 S.
ISBN 9783103900095

George Orwell – 1984
Übersetzt von Eike Schönfeld
Insel Verlag, 2021, 382 S.
ISBN 9783458178767

Kaspar Hauser

Kaspars Gedankengang IX

… „Im EngSoz (Englischer Sozialismus) herrscht eine einzige Partei über das Land und die Großmacht Ozeanien. Ihr Führer ist der Große Bruder“ (s. voriger Gedankengang) … Länger darüber nachgedacht, denn eigentlich ist der Große Bruder im Roman 1984 gar keine Person … zumindest wird in Frage gestellt, dass es diesen Großen Bruder überhaupt gibt … oder ob es sich um eine große Projektionsfläche handelt? …

… interessant, weil zur Zeit, als Orwell 1948 den Roman schrieb, seine zeitliche Nähe zu Diktaturen, die einer Art Führerkult anhingen, noch geringer war: der Führerkult in Deutschland bei den Nationalsozialisten, aber auch die Stalinfixierung in der Sowjetunion. Auch wenn es heute wieder Tendenzen gibt, bei denen eine „starke Figur“ an die Spitze autoritärer Strukturen gesetzt werden mag, so erscheint mir heute die Gefahr von diktatorischen Systemen (oder deren Vorläufern) vermehrt darin zu bestehen, dass sie an sich und in sich die totalitäre Unterdrückung darstellen und ohne eine Führer-Person auszukommen scheinen, ohne den großen Diktator. Heutige Überwachung ist systemisch zu denken. Wir unterwerfen uns einem „Netz“ technischer Möglichkeiten, auch im Anbetracht der Gefahr einer totalitären Nutzbarkeit …

… Orwell deutet das in seinem Roman schon an … der Große Bruder ist omnipräsent (auf Plakaten und Videowänden, im Denken der Leute …), aber es muss ihn als Person nicht einmal mehr geben … Die Partei wird auch nicht durch andere Führungspersönlichkeiten repräsentiert, sondern sie ist als Partei selbst Ausdruck des diktatorischen Prinzips. Köpfe sind auswechselbar … In 1984 herrscht eine Parteidiktatur. Der Große Bruder wird zur Projektionsfläche all dessen, was die Parteidiktatur ausmacht. Er ist unfehlbar. (Unpassende Äußerungen werden im Ministerium für Wahrheit nachträglich korrigiert.) Er ist unsterblich. (Niemand weiß genau, wann er geboren wurde und wie lange er schon als Parteigründer angeblich herrscht.) … Der Große Bruder ist, was die Partei will, dass er es sei …

… Orwell deutet an, wie eine Diktatur ohne Führerkult aussehen könnte. Denn die Diktatur in 1984 kommt – konsequent weitergedacht – früher oder später auch ohne den Führerkult um den Großen Bruder aus …

.. stellt sich für uns heute die Frage, inwieweit wir systematisch manipuliert werden, indem wir uns der Datenvernetzungsmaschinerie anvertrauen. Wer manipuliert hier eigentlich wen? Ein solches System denkbarer totalitärer Prinzipien der Manipulation des Einzelnen bedürfte jedenfalls keiner Führerfigur mehr … nicht einmal mehr eine einzelne Herrscherpartei …

Kaspar Hauser

Kaspars Gedankengang VIII

… bevor ich mir einige Gedanken über die Übersetzung des Buchs 1984 mache, erst einmal Folgendes … 

… Winston Smith lebt in London im Jahr 1984 … Das liegt in der Zukunft, jedenfalls vom Jahr der Entstehung des Romans aus betrachtet, der 1949 das erste Mal erschienen ist … Die Welt ist in drei Großmächte aufgeteilt, die permanent miteinander im Krieg liegen. Im EngSoz (Englischer Sozialismus) herrscht eine einzige Partei über das Land und die Großmacht Ozeanien. Ihr Führer ist der Große Bruder. Sein Konterfei findet sich auf Plakaten, die überall hängen, selbst in den Häusern. In allen Wohnungen gibt es Telemonitore, die Propaganda zeigen und Bild und Ton aus den Wohnungen empfangen. Die Menschen werden rund um die Uhr überwacht. Man kann die Telemonitore nicht ausschalten. In jedem Kollegen und jeder Kollegin muss Winston einen potentiellen Spitzel der Partei vermuten. Gesprochen wird neben Altsprech, dem vorher gängigen Englisch, Neusprech … reduziertes Vokabular … eingeschränkte Wortbedeutungen … bis zur Unkenntlichkeit simplifizierte Grammatik … Einschränkung des Denkens auf sprachlicher Ebene … Verfolgung droht Winston schon bei einem falschen Gedanken … das wird von der Gedankenpolizei (Denkpol) überwacht … 

… Die Vergangenheit ist manipulierbar. Winston fälscht alte Times-Auflagen, indem er Nachrichten anpasst, Meldungen korrigiert, Daten verändert, Menschen verschwinden lässt, die das Regime hat verschwinden lassen, neue Biografien, neue Personen erfindet. Einmal korrigiert, hat es nie eine andere Vergangenheit gegeben, nie eine andere Wahrheit, als die augenblickliche. Beweise werden in einem übermächtigen Bürokratieapparat vernichtet. Seine persönlichen Erinnerungen an eine abweichende Vergangenheit sind „falsch“. Wollte er auf ihnen bestehen, machte er sich eines Gedankenverbrechens schuldig. Es hat nie eine andere Vergangenheit gegeben! Winston verändert die historischen Fakten und weiß, dass sie nie anders waren, als jetzt. Doppeldenk heißt diese Art des gewünschten Denkens … 

… Die Partei und der Große Bruder sind der Garant für Wohlstand, Fortschritt und Frieden. Das London der Zeit ist verarmt und heruntergekommen. Wissenschaft und Kultur, freies Denken und Handeln sind unerwünscht. Es herrscht ununterbrochen Krieg mit einer anderen Macht … Doppeldenk … 

… Andersdenkende sind Feinde … werden Sündenböcke … werden verfolgt, inhaftiert, umerzogen oder vernichtet …

… in einer kleinen Nische seiner Wohnung – durch Zufall vom Telemonitor unbeobachtet – beginnt Winston ein Tagebuch zu schreiben. Ein Verbrechen. Er verliebt sich in Julia und wird sich heimlich mit ihr verabreden. Ein Verbrechen. Sie umgehen den Überwachungsstaat und suchen Rückzug in ihrer Liebe. Ein Verbrechen. Die Liebe der beiden fliegt auf. Was Winston nun droht, wird im letzten Teil des Buches durchexerziert. Die Ausübung jeglicher Gewalt des Regimes über den Einzelnen, um ihn zu brechen …

„Syme ist verschwunden. Eines Morgens fehlt er bei der Arbeit: Ein paar gedankenlose Leute machen Bemerkungen. Am nächsten Tag nicht mehr. Am dritten Tag geht Winston in den Vorraum der Abteilung Archiv, zum Schwarzen Brett. Einer der Aushänge ist die ausgedruckte Mitgliederliste des Schachkomitees, zu dem Syme gehört. Sie sieht fast genauso aus wie zuvor – nichts Durchgestrichenes -, aber sie ist um einen Namen kürzer. Das reicht. Syme existiert nicht mehr: er hat nie existiert.“

George Orwell – 1984
übersetzt von Frank Heibert
(Fischer, 2021, S. 198)

… Keine schöne neue Welt, die George Orwell in 1984 geschrieben hat, eine Dystopie. Eine Warnung vor jeder Form des Totalitarismus. Seine Kritik am kommunistischen System ist unüberlesbar, aber so allgemeingültig dargestellt, dass sie bis in unsere heutigen Tage trifft. Egal welche Ideologien dahinter stecken mögen, das Prinzip, die Mechanismen, Menschen totalitär zu beherrschen, bleiben gültig …

Kaspar Hauser

Kaspars Gedankengang VI

… Bücher, die ich schon einmal gelesen habe, … warum lese ich die eigentlich ein weiteres Mal? … Bei 1984 ist die Antwort auf den ersten Blick banal. Es gibt 2021 acht Neuübersetzungen ins Deutsche … ob die Verlage glauben, dass ich diese nun alle lesen muss, konnte mir mein Buchhändler nur schmunzelnd beantworten …

… zwei Übersetzungen scheinen mir interessant zu sein:

George Orwell – 1984
Übersetzt von Frank Heibert
S. Fischer, 2021, 432 S.
ISBN 9783103900095

George Orwell – 1984
Übersetzt von Eike Schönfeld
Insel Verlag, 2021, 382 S.
ISBN 9783458178767

Erstere ist im Präsens übersetzt und weicht damit stilistisch erheblich vom Original ab. Ich hätte das ehrlicherweise eine Übertragung genannt … ob die Begriffe Übersetzung / Übertragung in getrennter Bedeutung so üblich sind, wie ich es empfinde, weiß ich allerdings nicht …

… Es stört mich etwas, mich an das Präsens zu gewöhnen … ich habe das Übersetzer-Nachwort bewusst noch nicht gelesen, weil ich mir erst einen eigenen Eindruck von der Idee machen möchte, die für mich auf der Hand liegt. Diese Form rückt den Stoff näher an die heutigen Leser*innen heran, in ihrer aktuellen Problematik … 

… Es ist kein Geheimnis, dass viele 1984 als ein Buch betrachten, das auch heute noch nicht an Aktualität verloren habe. Dass Orwell 1984 als Kommunismuskritik geschrieben hat, geht da etwas verloren. Für heutige Leser*innen stehen vielleicht die totalitären Mechanismen im Vordergrund, wie sie sicherlich in allen autoritären Regimen vorkommen können … welcher Ideologie auch immer. Da merkt man dem Buch – aus heutiger Sicht gelesen – auch gleich die „Schwächen“ an. Visionär beschreibt Orwell das Prinzip: Überwachbarkeit des Einzelnen bis ins Alltägliche, Kontrolle von Meinungs- und Gedankenfreiheit, Kontrolle durch das soziale Umfeld, Fälschung von Fakten, bis hinein in die Geschichte, etc. … Das alles wirkt heute, mit unseren technischen Möglichkeiten der Mediengesellschaften, die Orwell noch nicht kannte, viel bedrohlicher. 

… Fast altbacken wirkt es, wenn sich Winston Smith von den Augen des Großen Bruders überall verfolgt fühlt. Da hängen nahezu überall die Plakat mit der legendären Aufschrift Big Brother is watching you. Fast überall Mikrofone, Kameras, Telemonitore (ein Wort, das wie eine Antiquität klingt) … letztere senden nicht nur, sondern sie empfangen auch, was Winston in seiner Wohnung tut und sagt. Das geht so weit, dass Winston bemüht ist, stets seine Mimik zu kontrollieren, nicht nur, weil ihn die Technik sieht und hört, sondern auch jeder Kollege ein Spitzel des Großen Bruders sein könnte … die Welt ist voller Misstrauen … 

… das ist gleichfalls die Stärke des Buches, noch heute … es offenbart die Prinzipien des Totalitären, egal wie wir sie technisch umgesetzt sehen … heute nennen wir das Sprachassistenten, Smartphone-Technik, Social Media, Datenkrake, usw. … neutrale technische Möglichkeiten … aber wer sie missbrauchen will, kann es tun … die Prinzipien der Kontrolle sind dieselben … das totalitäre Prinzip erkennbar … offengelegt …

… ich habe 1984 als Schüler zum ersten Mal gelesen und war begeistert. Ich bin es heute auf ernüchterte Weise erneut. Wie das in den beiden Übersetzungen zum Tragen kommt – ich habe mir auch noch eine englische Fassung besorgt – wird sich zeigen … 

… Ich bin gespannt …

Kaspar Hauser

Der Todestag George Orwells

Am 21. Januar 1950 starb George Orwell in London. Seine Werke sind nie ganz in Vergessenheit geraten und heute so aktuell wie zur Zeit ihrer Entstehung. Im Augenblick läuft 1984 als Bühnenbearbeitung mit großem Erfolg im Düsseldorfer Schauspielhaus. Ich habe die Inszenierung noch nicht gesehen, aber das Stück und die Lektüre des Buches stehen bei mir fest auf dem Programm. Ist es doch immer spannend, einem Werk zu begegnen, das man in seiner Schulzeit gelesen hat. Heute nehme ich es wieder zur Hand mit einem Kopf voller anderer Erfahrungen und neuer Ideen.

mh

Aus dem Block …

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.

Jon Fosse bekommt Literaturnobelpreis

Hier noch der Link zu einem älteren Beitrag.