… Gedankenstrom, wann der anfing weiß ich nicht … wann man anfing zu lesen kann man vielleicht sagen // da muss der Satz schon abbrechen, weil ich mich selber der Lüge bezichtigen muss: In der Schule habe ich zwar angefangen zu lesen, aber wann war der Punkt erreicht, von dem an ich wirklich las? … Ich will sagen, wann begann ich über das Gelesene nachzudenken? das nachzudenken, was andere darüber dachten? wann kam Eigenes hinzu? war es eigen oder war es gehört und nur nicht mehr gewusst, wo? … Wie bin ich in dem Gedankengang an den Punkt gekommen … zum jetzt, zum hier … und zu den beiden in diesem Jahr erschienen Büchern, die mir im Augenblick nicht aus dem Kopf wollen …
Kazuo Ishiguro – Klara und die Sonne Roman, Blessing, 2021, 352 S. isbn/ean: 9783896676931
Edelbauer, Raphaela – Dave Roman, Klett-Cotta, 2021, 432 S. isbn/ean: 9783608964738
Ich weiß es nicht. Normalerweise lese ich innerhalb eines Kontextes: Bücher eines Autoren, einer Autorin … ich versenke mich gerne längere Zeit in den Kosmos eines Menschen – hier nicht. Vielleicht war es Ishiguro? Vieles habe ich von ihm gelesen, bevor er höchstdekoriert mit dem Nobelpreis wurde. Wartete und wartete auf Neues … endlich! Sofort gekauft, sofort gelesen. Die Blisterung war kaum runter, da war ich durch und ich dachte: Schreib etwas darüber. Der nächste Gedanke. Alles, was du darüber schreibst, nimmt der nächsten Leser*in die Freude, es selbst zu entdecken. Das gilt für fast alle Bücher, aber hier doch besonders. Immer wieder war ich neugierig, was Ishiguro aus dem machen würde, was er mir bereits erzählt hatte … einen Science Fiction … Utopie, Dystopie … Gesellschaftskritik … Fortschrittsbedenken … (Alles zu kurz gegriffen, oder?) … Legte es fort auf mein Lesepult. Daneben lag Dave. Ich dachte noch über Ishiguro nach und fand Dave …
… zwei Bücher, die unterschiedlicher kaum sein könnten, finden in meinem Kopf zueinander. Das Thema scheint ähnlich, ja. Aber wie gehen die beiden da ran? Cliffhanger. Wortstrompause …
Kaspar Hauser
Aus dem Block …
vorbei
ich kann sie drehen und wenden ich finde meine komfortable ansicht der dinge nicht wieder
Jon Fosse – Melancholie
Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.
Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?
Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.
Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.
Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.