Michael Helm

Auf der Suche

Freitags auf dem Block

Als Schüler wusste ich, ein gutes Buch würde ich im Regal einer guten Buchhandlung finden. 

Dann lernte ich, dass ein gutes Buch aus wirtschaftlichen Gründen nicht im Regal der Buchhandlung stehen könne, dass es aber innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden bestellbar sei. Super.

Später lernte ich dann die Verlagsbestellung guter Bücher kennen, auf die ich ein bis zwei Wochen warten müsse.

Heute finde ich ein gutes Buch im Verzeichnis der Antiquariate; mit der Hilfe digitaler Technik ist es nicht schwierig, es zu finden. 

Wo werden ich ein gutes Buch morgen aufstöbern? Vielleicht in einem zerschlissenen Regal meines längst leerstehenden Hauses? 

mh

Ein kleines, angenehmes Café

Freitags auf dem Block

Viele kleine Augenblicke begeistern mich in einer Landschaft, die dem Licht entspringt. Die Farben, die Kontraste zwischen ihrem kräftigen Erscheinen und der mittäglichen Bleichheit, dem alles überstrahlenden Weiß, dem lebendigen Pulsieren und dem schattigen gedämpft sein. 

Die Farben der Häuser sind die Farben der Erde. Es sind durcheinandergewürfelte, kleine Dörfer, die an einer sich durch die Landschaft schlängelnden Landstraße auftauchen. Von fern sehen sie aus, als hätte man einige Ockerwürfel behutsam in Händen gehalten und dann auf einen Hügel, in ein kleines Tal oder über ein Stück sandige Erde ausgestreut.

Auf einer solchen Landstraße erreichen wir Ménerbes, das sich über einen Hügel erstreckt. Picasso hatte dort ein Atelier. Die Gassen sind leer und weder Autos noch Menschen sind zu sehen. Zwischen den Gassen liegt Schatten. Selbst mittags findet man an einer Hauswand ein kühles Fleckchen, in dem man sich verkriechen kann.  

Grüne Tupfer an den Wänden.

Wir besuchen ein kleines Café. Vor dem Eingang stehen zwei Stühle um einen kleinen Tisch herum. Niemand hier. Als säßen sie sich stumm gegenüber und betrachteten still die leere Dorfgasse. Sie schweigen wie zwei ältere Herren. 

Wir treten ein. Leute sitzen, lesen Zeitung und trinken Café. Die großen Fenster sind weit geöffnet und geben den Blick über das grüne Tal frei. Um zehn Uhr morgens ist die Luft mild und angenehm. Das Reden der Gäste, das Rascheln der Zeitungen und der Duft des Cafés. Ich lasse mich auf einem Stuhl nieder. Strecke meine Beine aus und sehe hinaus. Ohne etwas zu sagen. 

Als der Maître des Hauses kommt, bestellen wir unseren Café Crème. Wir genießen die Stunden. Sitzen, schweigen, denken nach, lesen Camus. Hochzeit des Lichts. Noch einen Café Crème. Gedanken. 

Später wollen wir nach Loumarin weiter, das Grab Camus´ besuchen, auf dem Markt schlendern, erneut in einem Café sitzen. Aber das kann warten. 

Michael Helm

Abkühlung

Fotografische Biografie

Ein wenig Abkühlung könnte mit jetzt guttun.

In C-Zeiten ist vieles anstrengender. Lesungen (hurra, es gibt sie wieder!) ohne Pause, puhhh!!! Jede Routine auf dem Prüfstand, so vieles, das im Detail geprüft und im Zweifel doch anders gemacht werden muss. Vom „Wie begrüße ich meine Gäste?“ bis zum durchorganisierten WC-Gang. Und immer ist da die noch nicht völlig eingeschliffene Routine: Wo ist eigentlich meine Maske? Das wird sich ändern, ich weiß. Mensch gewöhnt sich an fast allem, sacht mein Nachbar.

Nach den ersten Lesungen und Projekten hänge ich durch. Konditionell, geistig und moralisch. Sehnsucht nach einer obigen Ansicht. Kühlung könnte ein schöner Winterspaziergang verschaffen. Aufatmen, durchatmen, einmal richtig runterkühlen. Doch erstens ist nicht die Jahreszeit dafür und zweitens plagt gleich die nächste Sorge, die einer Kühlung bedürfte. Werde ich solche Fotos auf meinen Spaziergängen vor der Haustür überhaupt je wieder machen können? Das Foto ist schon etwas älter.

Über politische Fragen will ich hier gar nicht länger nachgrübeln. Da bräuchten ein paar Zeitgenossen ganze Kuren unter Null Grad. (Kann man so etwas eigentlich verordnen?) Aber lassen wird das. Bevor ich wieder heißlaufe. Cool down, sage ich mir.

mh

Fang Fang – Wuhan Diary

Freitags auf dem Block

Buchempfehlung

Als dieses Buch herauskam, war ich skeptisch. Zu viele Veröffentlichungen wollen uns mit monetärem Interesse unsere Gegenwart erklären. Dabei kommt meist nicht mehr Wissenswertes zu Tage, als der Diskussionsstand hergibt, den der gutbürgerliche Zeitungsleser bereits verfolgt. In Talk-Shows sitzen sich dann die Ad-hoc-Autoren die Hinterteile wund und posaunen ihr „Ich hab´ dazu mal ein Buch geschrieben“ in die Welt hinaus. Legitim, aber unwichtig. 

Nun gehört Hoffmann und Campe nicht zu den Verlagen, von denen ich so etwas erwarte und auch meine Buchhändlerin legte mir das Wuhan Diary der chinesischen Autorin Fang Fang ans Herz. Zwei vertrauenswürdige Gründe. Vorab, das Vertrauen hat sich als sehr begründet erwiesen. Das Buch ist eine Empfehlung wert.

Fang Fang
Wuhan Diary
Tagebuch aus einer gesperrten Stadt
Hoffman und Campe, 2020, 349 Seiten, 25,- €

Fang Fang ist 1955 geboren und in China eine bekannte Romanschriftstellerin. Doch das Wuhan Diary ist kein Roman, streng genommen ist es nicht einmal ein Buch. Die Dramaturgie konnte der Autorin beim Schreiben nicht vorschweben, denn sie wurde sozusagen auf­ok­t­ro­y­ie­rt. Was wir als Buch in Händen halten, ist während der Zeit der Sperrung der Stadt Wuhan — vom ersten bis zum letzten Tag — also während der Corona-Epidemie in China, als Blog im Internet entstanden. Und auch die Tagebuchform hat sich wohl erst von Tag zu Tag ergeben.

100 Millionen Chinesen sollen den Blog in Zeiten des Lockdowns täglich gelesen haben, doch als Buch gibt es das Tagebuch aus einer gesperrten Stadt in China bis heute nicht. Im Ausland wird es nun in diese Form übersetzt und vielfach gelesen. Einfühlsam und kritisch, wütend und ängstlich, anteilnehmend und informierend, auch humorvoll, sind nur einige Worte, die mir dazu einfallen, wie Fang Fang von Tag zu Tag beschreibt, was ihr durch den Kopf geht. Und die Dramaturgie des Tagebuchs ist die Corona-Krise. 

Wie alle anderen Menschen der Stadt sitzt Fang Fang in ihre Wohnung. Sie ist eingesperrt und schaut morgens als Erstes auf ihr Smartphone, auf der Suche nach hoffnungsvollen Neuigkeiten. Fast täglich beginnt ihr Blogeintrag mit dem Blick aus dem Fenster, mit dem Wetter, mit der Hoffnung auf Kirschblüten und Frühling. 

Es folgen alle denkbaren Alltagssorgen, es folgen Gerüchte, von denen sie hört, ihre Kommentare zu Internet-News und -Videos, die sie sieht. Sie gibt weiter, was sie den Mitteilungen befreundeter Ärzte entnimmt, aus den hoffnungslos überforderten Kliniken der Stadt. Kritisch hinterfragt sie die Verantwortlichkeit und Zuständigkeit der Behörden. Aber sie berichtet auch, wie sich Menschen im Chaos organisieren und gegenseitig helfen. Der Einblick, den sie uns in ihre erzwungene Zurückgezogenheit gewährt, ist sehr persönlich.

Man kann beim Lesen etwas Demut empfinden

Die „Bedrohung aus China“, wie manche glauben, die Katastrophe nennen zu dürfen, ist hier ganz nah. Die Sorgen der Menschen vor Ort lassen sich nicht mehr ans andere Ende der Welt verbannen, woher uns in Deutschland das Virus schon nicht heimsuchen wird. Es hat uns heimgesucht, bislang nicht in den Ausmaßen, wie in der Stadt Wuhan. Man kann beim Lesen etwas Demut empfinden, ob mancher „nachvollziehbaren“ Kritik an den Maßnahmen hierzulande, wenn man das Wuhan Diary liest.

Für mich war das Buch auch ein überraschender Einblick in ein mir fremdes Land und die Sorgen, die man als kritischer Geist dort hat. Fang Fang beschreibt, wie Teile ihres Blogs immer wieder gelöscht wurden. Wie sie zunehmend angefeindet wird, wie man politisch versucht, sie zu diskreditieren. Auf der anderen Seite wird sie unterstützt, werden Mittel und Wege gefunden, das Tagebuch weiter online zu stellen. Fang Fang lässt sich nicht verbieten, zu fragen, ihre Meinung zu veröffentlichen, so oder so nicht. 

Das Buch ist eine Einladung, die Menschen in China nicht nur über unsere Alltagsmedien kennen zu lernen, sondern einen vielseitigen Blick auf China zu werfen. Nicht zuletzt, indem man sich in die dortige Kunst und Literatur vertieft, sofern möglich. Solange wir nicht reisen können, nicht die schlechteste Form, dem Land und den Menschen in China näher zu kommen. 

mh

Piazza Navona

Römische Plätze IV

Die Piazza Navona gilt – wohl zu Recht – als einer der interessantesten Plätze der Welt, will mir ein populärer Reiseführer einreden. Und aufregend ist sie, die Piazza in ihrer Größe, mit ihren Brunnen und ihrem bunten Leben. Allein, sie ist nicht so bescheiden wie das einstige Blumenfeld, der Campo de´ Fiori. Vielleicht liegt es an ihrer hohen Herkunft, weil sie sich einst als Arena des Domitian bezeichnen durfte. An ihrem nördlichen Ende findet man die Piazza noch heute abgerundet. Die Menschen des Mittelalters – die wohl mehr auf ihr alltägliches Weiterleben bedacht sein mussten – errichteten ihre Häuser auf den Rängen der Arena eines zerfallenen Weltreichs. Die Außenmauern wurden einfach in die Bauten integriert. Man ließ die Trümmer nicht verkommen, sie waren zu wertvoll. Und so bewahrt die Piazza noch heute die Form der einstigen Arena, und das nicht ohne Stolz. 

Für Goethe war die Arena ein beeindruckender Ort, da man das Volk mit sich selbst zu imponieren verstand. Das touristische Treiben auf der Piazza Navona, lässt einen auf die Idee kommen, dass sich daran bis heute nichts geändert hat. Um die drei Brunnen scharen sich die Menschen, und die Gaukler versuchen im Lichte des Abends zu tun, was sie am besten können: den Menschen etwas vormachen! Ist es doch angenehm, sich in Rom ein wenig entführen zu lassen. An der Fontana dei Fiumi ist der Andrang des Publikums am größten. Bernini verstand es, die Blicke auf seinen Brunnen zu ziehen. Und während die vier großen Flüsse der Fontana – der Nil, die Donau, der Rio de la Plata und der Ganges – eindrucksvoll in alle Himmelsrichtungen strömen, versuchen die Clowns, die Tänzer, Akrobaten und Musiker, die Aufmerksamkeit der vorbeiströmenden Massen wiederzugewinnen und um ihre eigene kleine Welt im Kreise der Zuschauer zu scharen. 

Ein Eulenspiegel drängt sich aus der Gauklersippschaft besonders hervor. Der Mann treibt seine Späße auf Kosten der Leute, in dem er sie hereinlegt. Den aufgeputzten Frauen schaut er unter den Rock, anderen Damen beißt er wie ein Straßenköter in die Waden und es gibt keine lächerliche Pose, die er den Passanten nicht abschaut und pantomimisch ins Groteske zu steigern vermag. Dennoch will die Menge seiner potenziellen Opfer nicht kleiner werden. Nur sind die Leute stets bedacht, nicht in der vordersten Reihe zu stehen und dem Schelm in die Fänge zu gehen, was das Publikum fortwährend in auffällig hektische Bewegung versetzt. Der Kreis um den Narren lichtet sich nicht: Die Faszination, über den Tollpatsch gegenüber zu lachen, wirkt stärker, als die Gefahr selbst gefoppt zu werden. Dies haben die Eulenspiegel dieser Welt schon immer zu nutzen gewusst.

Im Spiel der Straßenkünstler, beim Rauschen des Vierströmebrunnens des Bernini und im kunstvollen Glanz der Laternen rund um die Piazza fällt kaum mehr ein einzelner Mann auf. Der Menschenstrom hat seinen Ufersaum, an dem die Leute in die Restaurants schwappen, bildet um die Kleinkünstler herum Strudel oder am Rande kleine abwegige Flüsschen, die vom großen Strom unbemerkt in die Seitengassen verschwinden. 

Auch ich lasse mich an der Fontana dei Fiumi verzaubern, als mir doch noch ein einzelner Mann auffällt. Er steht zwischen den Malern, die ihre romantischen Stadtansichten präsentieren, die sich in aller Welt gleichen. Weichgezeichnete Foren, Trajanssäulen und Petersplätze, die in unendlicher Zahl auf den Staffeleien ausgestellt und von skurrilen Figuren angepriesen werden. Gern stilisieren sie das Gesicht einer Touristin hinauf in den Glanz eine Hollywooddiva. 

Absurd, aber der Mann in der Menge fällt mir auf, weil er in dem skurrilen Haufen der Maler eher unauffällig erscheint. Ein grauer Anzug, eine passende einfarbige Krawatte, darüber ein offener Trench und braune Lederschuhe. Ein Beckettgesicht. Aufrecht steht er neben seiner Staffelei und einem Karton mit kleinen Romansichten im Postkartenformat. Seine Blicke, seine Mimik, seine Bewegungen erinnern mich eher an die eines Bankangestellten. Ein Handy scheint ihm in die Hand gewachsen, doch auf seine wiederholten Anrufe will niemand sich melden. Der Mann spricht auch nicht. Beiläufig sortiert er die Kartenansichten in seinem Karton, während er unaufhörlich zu telefonieren scheint. Vielleicht hört er aktuelle Börsenzahlen ab oder lange Nachrichten seiner Mailbox? Er schlägt den Kragen hoch, der das nicht mitmacht, und wenn er über die Piazza schaut, spielt er unbeholfen mit den Fingern an seinem Mantelsaum. Er blickt über die Piazza und erscheint wörtlich genommen deplatziert. Anzug und Schuhe sind aufgetragen, die Krawatte hat einen dezenten Fleck. Alles an ihm ist nicht mehr neu, doch der Mann scheint sehr bemüht, alles in einem solchen Zustand zu halten, als könne er die alltägliche Abnutzung verhindern. 

Um ihn herum die Maler, ihre italienischen Gebärden und Worte. Er aber spricht nicht. Potenzielle Kunden gehen an ihm vorüber, schauen lieber die Bilder eines Baskenmützenträgers oder des Mannes mit langen zusammengebundenen Haaren und Lederweste an. Doch auch am Bankschalter würden sich die Kunden vermutlich nicht in die Schlange einordnen, für die der Herr im Anzug zuständig wäre. Da lenken mich schon die Gitarrenklänge eines alten Songs der Beatles ab, ein Japaner, der seine Frau im Gewühl um den Berninibrunnen fotografiert, ein einzelner Violinespieler. Zwei geschulte Tänzer bauen pantomimisch den Ulk ein, den unsere Zeit zum Merkmal angeblicher Leichtigkeit bestimmt hat. Die Piazza Navona ist Unterhaltung, ist Ablenkung. Nur der Herr im Anzug versucht weiterhin seine Bilder feilzubieten, während er unermüdlich telefoniert. 

Michael Helm

Vor dem Gesetz

Freitags auf dem Block

Als ich neulich in meiner Jukebox blätterte …
Nee, nee, … Aber manch einer stöbert ja gerne und regelmäßig in seiner Plattenkiste (manche Menschen besitzen sowas durchaus!) andere stehen vor dem Bücherregal längst gelesener Schmöker und erfreuen sich daran. Ich schaute für diesen Freitag auf dem Block einmal in unser altes Radioarchiv.

Erinnert sich noch jemand ans Literadium, das Literaturradio im Bielefelder Bürgerfunk? Ich tue das immer wieder gerne. Wir machten dort einmal im Monat eine Sendung zur Literatur. Magazinsendungen, Sendungen zu einzelnen Autoren, Feature, Schnipsel, Kolumnen, Interviews. Ach, das war eine schöne Zeit … damals.

Für heute habe ich euch also einen Interviewschnipsel herausgekramt von Christine Helm, die diese Sendung damals moderierte und meine Lesung eines Textes von … na, na, von wem schon … na klar: Franz Kafka. Die ganze Sendung war zu Kafka. Nicht die Ohren kräuseln, reinhören ;)

Interview zur Kafkas „Vor dem Gesetz“ | Interview Christine Helm

Franz Kafka – Vor dem Gesetz | gelesen von Michael Helm

Aus dem Block …

Auftrittsimpressionen

Hier einige Impressionen unseres Auftritts am 09. September 2023:

Die Vorlesewerkstatt war ein Projekt der Aktion „Herford liest ein Buch“, initiiert und organisiert vom Förderverein der Stadtbibliothek Herford, Buch.Bar.

hinten: Michael Helm | Lennard Haubrich | Jan-Hendrik Lobstein | Lennert Waletzko
vorne: Maximilian Holtkamp | Anabel Koop | Emily Pautz | Maliha Ahmed

Sechs Wochen hatten die Jugendlichen aller Herforder Schulen an Texten zum Erwachsenwerden in den 1980ern und den 2020ern gearbeitet, ein Coming Of Age zweier Jahrzehnte. Die Lesung war unsere Abschlussveranstaltung in der Stadtbibliothek Herford.

Hat Spaß gemacht. Danke an alle!

Die „Unschärferelation der Liebe“

Die Heisenbergsche Unschärferelation. Selten erlebe ich, dass ein physikalischer Satz zum Titel eines Films wird. Und ich mag diesen Film, den ich jetzt bereits zum zweiten Mal geschaut habe. „Die Unschärferelation der Liebe“ von Lars Kraume basiert auf dem Theaterstück von Simon Stephens.

Ich gehe erst in letzter Zeit wieder etwas öfter ins Kino. Das liegt ausnahmsweise einmal nicht am bösen C-Wort der letzten Jahre. Ich mag lieber das Theater, verbringe viel Zeit dort und wenig im Kinosaal. Caroline Peters und Burghart Klaußner sah ich daher vor Jahren im Düsseldorfer Schauspielhaus. Das Stück hieß Heisenberg. Das faszinierte mich mehrfach. Die beiden Bühnenakteure mag ich sehr, das wäre Grund genug gewesen. Aber Heisenberg?

Erinnerungen an mein Studium: Wenn man kleinste Teilchen genau beobachten möchte, verliert man sie aus dem Blick. Genauer, indem man sie beobachtet, verändern sie ihre Eigenschaften, die wir doch beobachten wollten. Das heißt, durch unsere Beobachtung verändern wir das, was wir beobachten möchten. Jedem kommt das als der „Beobachtereffekt“ bekannt vor. Wir können nicht als anwesender Beobachter keinen Einfluss auf die Situation nehmen. Schüler*innen und Referendar*innen spüren das übrigens sehr genau, wenn hinten in der Klasse eine Prüfungskommission sitzt, die den Unterricht beurteilen soll. Diese Menschen dort hinten sehen alles, nur keine realistische Unterrichtssituation. Nur weil sie anwesend sind.

Nun ist das auf der physikalischen Teilchenebene etwas … nun ja, infinitesimaler. Und Heisenberg hatte sicherlich keine Lehramtsprüfung im Kopf, als er seinen Satz von der Unschärferelation formulierte. Aber vielleicht dachte er schon einmal darüber nach, wie zwei Menschen einander betrachten, als wären es zwei Teilchen, die versuchten das jeweils andere näher zu bestimmen. Da wird Physik zur Philosophie. Da wird ein physikalischer Satz zum Filmtitel. Spannend.

Wie zwei Teilchen bewegen sich Alexander und Greta im Film umeinander. Zuerst will sie ihm nahe sein und bedrängt ihn. Sie redet und redet, flunkert und brilliert mit ihren Geschichten. Witziger als Caroline Peters kann man das nicht darstellen. Es lohnt sich aber, hin und wieder, den Blick von ihrer sprühenden Art zu Spielen abzuwenden und Burghart Klaußner zu beobachten. Zuerst ein Fels in der Brandung, in dem Versuch unbewegt zu sein. Als über Siebzigjähriger bringt einen eine junge Frau doch nicht mehr aus der Bahn, oder? Wie sich Alexander mehr und mehr von ihr berühren lässt: Sie ist da, sie lässt ihn nicht mehr los. Er kann nicht unbeeindruckt sein. Das spielen die beiden Akteure wunderbar aus.

Zwei sehr unterschiedliche Menschen begegnen sich, versuchen, einander nahe zu sein. Sind, wie sie sind. Sind im Augenblick schon ein Teil der Situation, die durch den anderen mitbestimmt wird. Braucht es eigentlich auf der Bühne noch mehr? Oder im Film, wo man ihren Gesichtern, ihren Augen so nahe zu kommen glaubt, wie sonst nie. Was sehen wir in diesen beiden Augenpaaren?

Das ist das faszinierende an dem Film. Ich würde ihn noch einmal schauen und wieder etwas ganz anderes betrachten. Wir können nicht unbeeinflusst schauen, vor allem nicht, wenn Burghart Klaußner und Caroline Peters uns, gleich einem physikalischen Teilchen, aus der Bahn werfen.