Michael Helm

Kaspars Gedankengang X

… nachdem ich 1984 von George Orwell in zwei Übersetzungen und noch einmal im Original gelesen habe, bleibt darüber nachzudenken, welche ich gelungener finde … keine Antwort möglich und ich schiebe diesen Beitrag schon Tage vor mir her … 

… Die Übertragung von Frank Heibert ist keine klassische Übersetzung. Im Nachwort begründet er einige Finessen, die er vorgenommen hat. Die auffälligste habe ich schon genannt, er überträgt Orwells Text ins Präsens. Orwell schreibt nicht in einem experimentellen Stil. Die Art wie er die Geschichte um Winston Smith erzählt, dürfte in seiner Zeit (1948) nicht ungewöhnlich gewesen sein. Das Sujet war aufrüttelnd. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, noch während des Stalinismus und nach dem Nationalsozialismus, eine derartige Dystopie zu schreiben, muss mindestens einer äußerst pessimistischen Weltsicht und Warnung gleichgekommen sein. Wie viele seiner Zeitgenossen traute er dem Frieden nicht … und ob es im kalten Krieg einen wirklichen Frieden zwischen den Großmächten gab, kann bis heute diskutiert werden … 

… In 1984 gibt es diesen äußeren Frieden zwischen den drei fiktiven Großmächten nicht und Orwell schildert, wie sich das innere Gesellschaftsgefüge in einem totalitären Staat mit Krieg, Angst, Hass und Hysterie stabilisieren lässt … dabei ist bezeichnend, dass niemand so genau weiß, ob der Krieg überhaupt ein heißer ist oder ob es sich um einen kalten Propagandakrieg handelt. Winston hat seine Zweifel … 

Inhaltlich trug das Buch damals Aufregungspotential in sich … unsere heutigen Schwerpunkte sind andere … für die Leser*innen damals dürfte die Bedrohung in Orwells Dystopie konkreter gewesen sein … für uns scheint das Meiste so nicht eingetroffen … wir schauen vielmehr bange auf die totalitären Mechanismen, die mit einer noch verfeinerteren gegenwärtigen Technik möglich geworden sind, an die George Orwell noch nicht einmal gedacht hat. Er behält recht, weil das totalitäre Prinzip, das er schildert, dasselbe geblieben ist … mit welchen technischen Finessen es realisiert wird, ist zweitrangig …

… Um das provokante Potential des Textes für heutige Leser*innen zu erhalten, überträgt es Heibert in die Gegenwart … von dieser wird sich erst im Schlusskapitel herausstellen – nämlich wenn es um die Auseinandersetzung mit Neusprech gehen wird – dass das alles längst in der Vergangenheit liegen muss. Der Roman wir dadurch unmittelbarer für uns … 

Die Übertragung Heiberts verändert den Originaltext bis in die Satzstruktur, die sich im Deutschen und Englischen natürlich unterscheiden. Bei Heiberts Übertragung hatte ich oft den Eindruck, dass diese dem im Buch propagierten Neusprech näher kommt, als in Orwells Roman. Zum Beispiel scheinen mir viele Sätze kürzer und prägnanter, als in der Übersetzung von Eike Schönfeld und selbst im Original. Das fand ich gelungen …

… Diskutieren kann man, wie bei vielen anderen Beispielen auch (z.B. Moby Dick), wie ein Übersetzer mit umgangssprachlichen Sequenzen umgeht. Heibert findet für die altenglische Sprache der „Proleten“ eine stark ans Ruhrpott-Deutsch angelehnte Ausdrucksweise … „Proleten“ sprechen in 1984 kein Neusprech, also reden sie im zeitgenössischen Englisch Orwells, also Altsprech aus der Zukunftsperspektive. Dies allerdings stark mit Slang. Solche Übertragungen zwischen verschiedenen Sprachen und mundartlichen Ausprägungen können maximal eine Näherung sein …

… die andere Übersetzung von Eike Schönfeld ist eine gelungene „klassische“ Übersetzung, die das Original bis ins Detail angemessen berücksichtigt. Sie kommt Orwell näher. Die Übertragung von Frank Heibert klingt frischer – manchmal wirkt das auf mich etwas verfremdend … letztere ist auf keinen Fall etwas für Erstleser*innen des Romans. Kennt man 1984 aber bereits, ist sie eine spannende Ergänzung in der Auseinandersetzung mit Orwells Stoff in unseren Tagen. Bei der Übersetzung Schönfelds muss man Orwells Roman in seiner Zeit berücksichtigen, was letztlich für alle Klassiker gilt … 

… besser hätte ich es im Falle der Übertragung von Frank Heibert gefunden, wenn der Verlag dies deutlich als Übertragung nach George Orwell auf dem Cover gekennzeichnet hätte …

… beide Herangehensweisen haben ihr Für und Wieder. Beide waren gewinnbringend zu lesen. Wer Englisch beherrscht, ist sowieso bei George Orwell am besten aufgehoben … auch wenn ich denke, dass die Kunst guter Übersetzer viel zu wenig Würdigung findet … im Falle dieser beiden Übersetzer sollte man es tun …

George Orwell – 1984
Übersetzt von Frank Heibert
S. Fischer, 2021, 432 S.
ISBN 9783103900095

George Orwell – 1984
Übersetzt von Eike Schönfeld
Insel Verlag, 2021, 382 S.
ISBN 9783458178767

Kaspar Hauser

Aus dem Block …

vorbei

ich kann sie drehen und wenden
ich finde meine komfortable ansicht
der dinge nicht wieder

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.