Das alles geschah wie in einem Nebel. Die Musik drang hindurch, ein paar Lichtstrahlen, ein Jazzbesen strich seinen Takt … die Enge des Jazzkellers … Schleierfetzen wabernden Kohlenoxids: Wir hatten etwas zu viel Rotwein getrunken, uns amüsiert. Bernd sprach Worte, die niemand verstand, dann schwieg die Snare, die Unruhe begann. Ich klatschte. Da spürte ich einen Arm, Finger, die an meiner Hand vorbeistrichen. Das Weinglas, vor mir, verschwand einfach. Keine große Bewegung, kein Wort, kein Laut, nur die Geste im Nebel. Eine junge Frau erhob sich mit meinem Glas und weil ein Scheinwerfer sie vorübergehend anstrahlte, sah ich eine Nuance ihres Gesichts, sonst Schatten. Mit dem leicht geschwenkten Rotwein und einer Freundin war sie beinahe verschwunden. Jedoch …, bevor sie unter einem der Gewölbebögen abtauchte, sah ich, wie sie das Glas an den Mund führte, wie mein Wein ihre Lippen berührte … ein unsichtbarer Kuss lag auf ihnen. Ich lächelte still vor mich hin.
Michael Helm
Aus dem Block …
vorbei
ich kann sie drehen und wenden ich finde meine komfortable ansicht der dinge nicht wieder
Jon Fosse – Melancholie
Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.
Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?
Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.
Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.
Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.