Michael Helm

Es gibt immer einen Weg

Freitags auf dem Block

Ein Gespräch mit dem Fotografen Jürgen Escher

„Kein anderes Medium hat die Kraft der Fotografie“ (Foto © Jonas Brander)

Jürgen Escher ist ein langjähriger Freund und Kollege. Das Interview führte ich in Corona-Zeiten, geprägt von Kontaktsperre, Einschränkungen vieler Lebensgewohnheiten, gesundheitlicher und wirtschaftlicher Unsicherheiten und – für Jürgen Escher sehr bedeutsam – Reisebeschränkungen. Er konnte seinen Beruf nur sehr rudimentär im eigenen Büro ausüben. Auch das Interview entstand von Home-Office zu Home-Office.

Jürgen, wir leben im Augenblick in einer Zeit, von der ich vermute, dass uns dazu einmal jüngere Menschen fragen werden: Wie habt ihr das eigentlich damals erlebt? Fühlt sich dieser Moment für dich eher wie Alltag oder wie Geschichte an?

Jürgen Escher. Wie Geschichte! Das Virus hat uns klar gemacht, wie verletzlich wir in unserer globalisierten Welt geworden sind. Hoffentlich lernen wir daraus!?

Das Jahr 2020. Welche gesellschaftliche Entwicklung, welches gesellschaftliche Ereignis macht dir im Augenblick wirklich Sorgen?

Jürgen Escher. Die Menschen, die jetzt auf die Straße gehen und zusammen demonstrieren mit Verschwörern, rechten und linken Extremisten. Wer dort gutgläubig mitmarschiert, macht sich mitschuldig!

Vor genau 75 Jahren wurde Deutschland von den Nationalsozialisten befreit und der Zweite Weltkrieg war zu Ende. Ist es für dich besorgniserregend, wenn Medienvertreter und Reporter in Deutschland heute wieder auf offner Straße angegangen, teils sogar angegriffen werden?

Jürgen Escher. Jedes Jahr sterben weltweit Kollegen und Kolleginnen, die uns informieren wollen, bei der Ausübung ihrer journalistischen Arbeit. Jeder Angriff auf die Presse ist gleichzeitig auch ein Angriff auf unsere Demokratie. Keine Freiheit ohne Pressefreiheit.

Kurzvita: Jürgen Escher
Geb. 1953 in Herford, ist Fotograf. Er studierte Fotografie von 1977-1983 an der Fachhochschule in Bielefeld. Seit 1983 ist er als Fotograf und Designer weltweit tätig für Hilfsorganisationen, Verlage und Redaktionen. Jürgen Escher ist Autor diverser Buchpublikationen. Seine Fotoarbeiten sind in vielen Einzel- und Sammelausstellungen im In- und Ausland zu sehen. Er lebt und arbeitet in Herford und ist Vater zweier Kinder. 
Infos unter https://juergenescher.de

Wir leben jetzt seit Wochen in der Corona-Krise mit Beschränkungen der Freizügigkeit. Du sprichst von Menschen, die gegen die Beschränkungen auf die Straße gehen, um zu demonstrieren. Du bist in der ganzen Welt als Fotograf unterwegs und kennst politische und soziale Umstände in Ländern, die man in Deutschland nur aus den Nachrichten kennt. Ist eine Freiheitsbeschränkung, wie wir sie jetzt in Deutschland erleben, bedrohlich? Ist unsere Demokratie in Gefahr?

Jürgen Escher. Ganz entschieden ein Nein! Beruflich war die Pandemie für uns Fotografen extrem schwer. Alle Aufträge wurden storniert, das Reisen war unmöglich. Gottseidank gab es die Corona-Hilfe vom Staat! Wir hatten privat manchmal auch Zweifel an dem Lockdown und den damit verbundenen Einschränkungen gehabt. Aber wir sehen ja jetzt, dass diese krassen Maßnahmen sinnvoll waren.

Fühlst du dich im Augenblick in deiner Freiheit beschränkt? Wie wirkt sich Corona auf dich aus?

Jürgen Escher. Entschleunigung ist die richtige Antwort. Trotz aller Sorgen ist die Corona-Pandemie auch eine Möglichkeit, unser Tun zu überdenken und in Frage zu stellen.

Es wird jetzt oft betont, wie wichtig Kunst und auch die Kleinkunst für eine freie, demokratische Gesellschaft sei. Sind das Lippenbekenntnisse? Oder steckt dahinter für dich etwas Bleibendes?

Jürgen Escher. Ich bin da eher zwiespältig. Die freiberuflichen Künstler und Künstlerinnen aller Kategorien sind mit Sicherheit die großen Verlierer dieser Krise. Viele Hilfen waren unzureichend oder schlecht durchdacht. Unsere Kultur- und Kunstlandschaft wird nach der Pandemie eine andere sein. Künstler und speziell Kleinkünstler sind immer schon schlecht bezahlt worden. Ich habe es selbst miterlebt bei Kulturevents zum Beispiel, alle Beteiligten (Musiker, Moderator, Techniker, Handwerker etc.) wurden bezahlt nur die bildenden Künstler nicht. Man würde doch Werbung für sich machen und sicher Arbeiten verkaufen – ist immer wieder ein Totschlagargument der Veranstalter. Vielleicht beginnt jetzt ja ein Umdenken.

Seit einiger Zeit befinden wir uns in Europa im ständigen Krisenmodus: Die Banken-Krise, die Flüchtlings-Krise, die Corona-Krise, Demokratie-Krise, Krisen durch terroristische Anschläge. Hört sich als Europäer ziemlich dramatisch an. Ist es das? 

Jürgen Escher. Europa ist schon an der Flüchtlingskrise gescheitert. Jetzt droht Europa an der Corona-Krise zu scheitern. Solidarität in Krisen ist in Europa problematisch. Wir leben aber zusammen auf dieser einen Erde und wir müssen endlich anfangen, nicht nur europäisch (sondern global) Verantwortung zu übernehmen und gemeinsam zu handeln.

„Seit dem Jahr 1983 arbeite ich als Fotograf in der ganzen Welt. In diesen 37 Jahren ist eine ganze Menge passiert. Ich liebe meinen Job noch immer! Warum? Weil ich einen der schönsten Berufe der Welt habe, das Fotografieren, die Menschen und das Reisen liebe.“ Jürgen Escher

Du sagst oft, du möchtest dazu beitragen, die Welt ein wenig besser zu machen. Wie wichtig ist dein Beruf, um sich auf den Weg in eine solche bessere Welt zu machen?

Jürgen Escher. Die Welt besser zu machen, fängt bei jedem selbst an. Wenn ich es schaffe durch meine Fotos Menschen zu berühren und zum Nachdenken zu bringen, habe ich schon viel geschafft.

Bilder und Fotos können auch lügen. Fotos werden aus dem Kontext gerissen und vor einen bestimmten propagandistischen Karren gespannt. Man kann sie manipulieren, um unsere Wahrnehmung zu beeinflussen. Wenn du an solche manipulativen Beispiele denkst, kommen dir dann hin und wieder Zweifel an deinem Beruf?

Jürgen Escher Ein guter Fotograf hat immer Zweifel. Aber kein anderes Medium hat die Kraft der Fotografie – deswegen wurden Fotos immer manipuliert. Der Vietnamkrieg wurde auch durch die Macht der Fotografien beendet. Als Konsequenz daraus fand der Falkland-Krieg danach ganz ohne Fotografen statt. Heute ist Kriegsberichterstattung nur noch embedded möglich. Jeder Fotograf/Fotografin ist ein Individuum und jede Fotografie ist erstmal eine individuelle Aussage – es gibt keine objektiven Fotos. Gibt es objektive Wörter?

Gibt es Grenzen der Fotografie?

Jürgen Escher. Diese Grenze sollte jeder in sich formuliert haben. Kein Foto sollte entstehen ohne das Einverständnis des Menschen, der fotografiert wird. Ein Beispiel: Wenn ich als Fotograf das Vertrauen der Menschen habe, sie zu begleiten und ihr Leben zu dokumentieren, dann sind auch Aufnahmen von Trauer, Verlust, Schmerz usw. möglich. Weil ihr Leben und Leiden dann wieder anderen Menschen einen Weg aufzeigen kann. Man gibt ihnen so eine Stimme!

Bei Korarak: Jusuf Kafi Durfan bringt die Familie seiner Schwägerin Hawa Elias mit ihren sechs Kindern in das Flüchtlingslager Yida im Süd-Sudan. Für den Marsch brauchen sie mehrere Tage, Nubaberge, Sudan, 2012 (© Jürgen Escher)

Welches von deinen Bildern ist dir im Augenblick das wichtigste und warum?

Jürgen Escher. Der Weg – fotografiert 1992 in Suriname für das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat. Licht und Schatten komprimiert im Bruchteil einer zehntel Sekunde. Die Silhouette des Jungen am Ende des Weges auf dem Weg in sein Dorf; er, fasziniert von uns Neuankömmlingen (mit Boot) und ich, fasziniert von dem Motiv. Es existiert nur ein Negativ von dieser Szene, die mich und viele andere Menschen bis heute begleitet. Es gibt immer einen Weg.

Weg zum Dorf, Suriname, 1992 (© Jürgen Escher)

In Home-Office-Zeiten müssen viele Menschen anders mit der Alltagszeit, die sie haben, umgehen. Was machst du heute in deinem Alltag anders. Was davon würdest du gerne beibehalten, auch ohne den Virus?

Jürgen Escher. Da ich selbstständig bin und mein Büro eh zu Hause ist, würde ich nichts ändern wollen. Ich habe das Glück, meine Leidenschaft zu meinem Beruf gemacht zu haben. Das Reisen und das Eintauchen in andere Kulturen sind mein Lebenselixier. Und das kann ich hoffentlich bald wieder machen!

Was würdest du einem nahestehenden Menschen in 75 Jahren gerne sagen, was wir heute hätten einfach besser machen müssen?

Jürgen Escher. Durch Corona hätten wir eigentlich begreifen müssen: Wir leben zusammen auf dieser Erde und wir müssen endlich anfangen, global Verantwortung zu übernehmen und gemeinsam zu handeln. 

Das Interview führte Michael Helm im Juni 2020.
Alle Bildrechte liegen bei Jürgen Escher.
Fotografenbild: Jonas Brander.

Aus dem Block …

Der Fremde

gesprochen von Ulrich Matthes

Meursault eine Stimme geben? Wer könnte das besser als Ulrich Matthes. Nach meiner Camus-Lektüre in den vergangenen Wochen, habe ich mir „Der Fremde“, gesprochen von Ulrich Matthes, angehört. Bei Hörbüchern bin ich sehr zurückhaltend. Ich mag einige sehr bekannte deutsche Hörbuchsprecher überhaupt nicht. Zu einer Stimme, auf die ich mich stundenlang einlasse, habe ich eine besondere Beziehung. Das muss passen. Das ist nicht zu begründen. Das ist eine Bauchentscheidung. Matthes passt. 

Seiner Stimme kann ich zuhören, auf dem Sofa, auf einem Spaziergang, auf dem überfüllten Bahnsteig. Ich verliere nicht den Faden, wie es mir bei anderen häufig passiert. Er hält mich immer im Stück. 

Camus´ Werke zu sprechen, insbesondere den Fremden, Meursault, ist eine besondere Herausforderung. Ulrich Matthes hält sich zurück, gibt dem Text genau die lakonische Stimmung, die er braucht. Gleichzeitig wirkt die Stimme in den Detailbetonungen nie monoton. Es entstehen Bilder beim Hören, wie sie mir selbst beim Lesen nicht gekommen waren, obwohl ich bei der Lektüre viel mehr Zeit hatte. Rhythmus, Tempo, Pause, das alles wird wunderbar in eine Stimme gebracht, wie ich sie mir für Meursault vorstelle. Diese Stimme bleibt in meinem Kopf. Dank des Autors, dank des Sprechers.

mh

24.08.1922 – Tucholsky vor einhundert Jahren

„Wir sind fünf Finger an einer Hand“, schreibt Kurt Tucholsky in einem Artikel der Weltbühne 1922. Die fünf aus dem Zitat, das sind Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Kurt Tucholsky selbst. Tucholsky ist eigentlich kein Pseudonym, aber unter all diesen Namen veröffentlichte er in den verschiedenen Zeitungen. Und der Name Tucholsky trollte sich eben wie ein solches im Reigen der anderen Pseudonyme. Zusammen hatten sie die Schlagkraft, die der 1890 in Berlin geborenen Tucholsky aufbringen musste, um gegen die Missstände in der jungen Weimarer Republik anzuschreiben, für die Freiheit und für die Demokratie. „Wir alle Fünf lieben die Demokratie.“

Wir alle Fünf
von Kurt Tucholsky

Die rechtsstehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als »den vielnamigen Herrn« hinzustellen, »der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt«. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma.

Aber wir stammen alle Fünf von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm.

Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte Original-Deutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offiziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereit halten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste Kavallerie-Wachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, dass man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den ›gemeinen Mann‹ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Kommis.

Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht ›gleich‹ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest.

Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf.

Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, dass es schallt, und dass die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke.

Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.

Kurt Tucholsky
Die Weltbühne vom 24.08.1922