Michael Helm

Fang Fang – Wuhan Diary

Freitags auf dem Block

Buchempfehlung

Als dieses Buch herauskam, war ich skeptisch. Zu viele Veröffentlichungen wollen uns mit monetärem Interesse unsere Gegenwart erklären. Dabei kommt meist nicht mehr Wissenswertes zu Tage, als der Diskussionsstand hergibt, den der gutbürgerliche Zeitungsleser bereits verfolgt. In Talk-Shows sitzen sich dann die Ad-hoc-Autoren die Hinterteile wund und posaunen ihr „Ich hab´ dazu mal ein Buch geschrieben“ in die Welt hinaus. Legitim, aber unwichtig. 

Nun gehört Hoffmann und Campe nicht zu den Verlagen, von denen ich so etwas erwarte und auch meine Buchhändlerin legte mir das Wuhan Diary der chinesischen Autorin Fang Fang ans Herz. Zwei vertrauenswürdige Gründe. Vorab, das Vertrauen hat sich als sehr begründet erwiesen. Das Buch ist eine Empfehlung wert.

Fang Fang
Wuhan Diary
Tagebuch aus einer gesperrten Stadt
Hoffman und Campe, 2020, 349 Seiten, 25,- €

Fang Fang ist 1955 geboren und in China eine bekannte Romanschriftstellerin. Doch das Wuhan Diary ist kein Roman, streng genommen ist es nicht einmal ein Buch. Die Dramaturgie konnte der Autorin beim Schreiben nicht vorschweben, denn sie wurde sozusagen auf­ok­t­ro­y­ie­rt. Was wir als Buch in Händen halten, ist während der Zeit der Sperrung der Stadt Wuhan — vom ersten bis zum letzten Tag — also während der Corona-Epidemie in China, als Blog im Internet entstanden. Und auch die Tagebuchform hat sich wohl erst von Tag zu Tag ergeben.

100 Millionen Chinesen sollen den Blog in Zeiten des Lockdowns täglich gelesen haben, doch als Buch gibt es das Tagebuch aus einer gesperrten Stadt in China bis heute nicht. Im Ausland wird es nun in diese Form übersetzt und vielfach gelesen. Einfühlsam und kritisch, wütend und ängstlich, anteilnehmend und informierend, auch humorvoll, sind nur einige Worte, die mir dazu einfallen, wie Fang Fang von Tag zu Tag beschreibt, was ihr durch den Kopf geht. Und die Dramaturgie des Tagebuchs ist die Corona-Krise. 

Wie alle anderen Menschen der Stadt sitzt Fang Fang in ihre Wohnung. Sie ist eingesperrt und schaut morgens als Erstes auf ihr Smartphone, auf der Suche nach hoffnungsvollen Neuigkeiten. Fast täglich beginnt ihr Blogeintrag mit dem Blick aus dem Fenster, mit dem Wetter, mit der Hoffnung auf Kirschblüten und Frühling. 

Es folgen alle denkbaren Alltagssorgen, es folgen Gerüchte, von denen sie hört, ihre Kommentare zu Internet-News und -Videos, die sie sieht. Sie gibt weiter, was sie den Mitteilungen befreundeter Ärzte entnimmt, aus den hoffnungslos überforderten Kliniken der Stadt. Kritisch hinterfragt sie die Verantwortlichkeit und Zuständigkeit der Behörden. Aber sie berichtet auch, wie sich Menschen im Chaos organisieren und gegenseitig helfen. Der Einblick, den sie uns in ihre erzwungene Zurückgezogenheit gewährt, ist sehr persönlich.

Man kann beim Lesen etwas Demut empfinden

Die „Bedrohung aus China“, wie manche glauben, die Katastrophe nennen zu dürfen, ist hier ganz nah. Die Sorgen der Menschen vor Ort lassen sich nicht mehr ans andere Ende der Welt verbannen, woher uns in Deutschland das Virus schon nicht heimsuchen wird. Es hat uns heimgesucht, bislang nicht in den Ausmaßen, wie in der Stadt Wuhan. Man kann beim Lesen etwas Demut empfinden, ob mancher „nachvollziehbaren“ Kritik an den Maßnahmen hierzulande, wenn man das Wuhan Diary liest.

Für mich war das Buch auch ein überraschender Einblick in ein mir fremdes Land und die Sorgen, die man als kritischer Geist dort hat. Fang Fang beschreibt, wie Teile ihres Blogs immer wieder gelöscht wurden. Wie sie zunehmend angefeindet wird, wie man politisch versucht, sie zu diskreditieren. Auf der anderen Seite wird sie unterstützt, werden Mittel und Wege gefunden, das Tagebuch weiter online zu stellen. Fang Fang lässt sich nicht verbieten, zu fragen, ihre Meinung zu veröffentlichen, so oder so nicht. 

Das Buch ist eine Einladung, die Menschen in China nicht nur über unsere Alltagsmedien kennen zu lernen, sondern einen vielseitigen Blick auf China zu werfen. Nicht zuletzt, indem man sich in die dortige Kunst und Literatur vertieft, sofern möglich. Solange wir nicht reisen können, nicht die schlechteste Form, dem Land und den Menschen in China näher zu kommen. 

mh

Aus dem Block …

Der Fremde

gesprochen von Ulrich Matthes

Meursault eine Stimme geben? Wer könnte das besser als Ulrich Matthes. Nach meiner Camus-Lektüre in den vergangenen Wochen, habe ich mir „Der Fremde“, gesprochen von Ulrich Matthes, angehört. Bei Hörbüchern bin ich sehr zurückhaltend. Ich mag einige sehr bekannte deutsche Hörbuchsprecher überhaupt nicht. Zu einer Stimme, auf die ich mich stundenlang einlasse, habe ich eine besondere Beziehung. Das muss passen. Das ist nicht zu begründen. Das ist eine Bauchentscheidung. Matthes passt. 

Seiner Stimme kann ich zuhören, auf dem Sofa, auf einem Spaziergang, auf dem überfüllten Bahnsteig. Ich verliere nicht den Faden, wie es mir bei anderen häufig passiert. Er hält mich immer im Stück. 

Camus´ Werke zu sprechen, insbesondere den Fremden, Meursault, ist eine besondere Herausforderung. Ulrich Matthes hält sich zurück, gibt dem Text genau die lakonische Stimmung, die er braucht. Gleichzeitig wirkt die Stimme in den Detailbetonungen nie monoton. Es entstehen Bilder beim Hören, wie sie mir selbst beim Lesen nicht gekommen waren, obwohl ich bei der Lektüre viel mehr Zeit hatte. Rhythmus, Tempo, Pause, das alles wird wunderbar in eine Stimme gebracht, wie ich sie mir für Meursault vorstelle. Diese Stimme bleibt in meinem Kopf. Dank des Autors, dank des Sprechers.

mh

24.08.1922 – Tucholsky vor einhundert Jahren

„Wir sind fünf Finger an einer Hand“, schreibt Kurt Tucholsky in einem Artikel der Weltbühne 1922. Die fünf aus dem Zitat, das sind Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Kurt Tucholsky selbst. Tucholsky ist eigentlich kein Pseudonym, aber unter all diesen Namen veröffentlichte er in den verschiedenen Zeitungen. Und der Name Tucholsky trollte sich eben wie ein solches im Reigen der anderen Pseudonyme. Zusammen hatten sie die Schlagkraft, die der 1890 in Berlin geborenen Tucholsky aufbringen musste, um gegen die Missstände in der jungen Weimarer Republik anzuschreiben, für die Freiheit und für die Demokratie. „Wir alle Fünf lieben die Demokratie.“

Wir alle Fünf
von Kurt Tucholsky

Die rechtsstehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als »den vielnamigen Herrn« hinzustellen, »der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt«. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma.

Aber wir stammen alle Fünf von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm.

Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte Original-Deutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offiziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereit halten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste Kavallerie-Wachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, dass man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den ›gemeinen Mann‹ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Kommis.

Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht ›gleich‹ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest.

Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf.

Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, dass es schallt, und dass die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke.

Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.

Kurt Tucholsky
Die Weltbühne vom 24.08.1922