Michael Helm

Das große Dauerverlustgeschäft

»Dauerverlustgeschäft« ist ein schickes Wort, das mir neulich begegnete. Es bezeichnet Volkshochschulen, Bibliotheken, Theater und künstlerisches Engagement allgemein. Generös wird darauf hingewiesen, dass man trotz des finanziellen kulturellen Desasters ja noch getragen werde. Irgendwie sei man ja doch wichtig. Noch und irgendwie! Ich denke, wir werden, wenn wir so weiter machen, noch merken, wie wichtig Bibliotheken, Theater und Volkshochschulen waren. Ich wünsche mir hin und wieder einmal einen kulturellen Generalstreik: Einen Monat lang keine nahezu kostenlose Bücherausleihe, kein Kinder- und Jugendtheater, keine Lesescouts, keine Theaterfestivals, keine Konzerte, kein Musikunterricht, keine Lesungen, Bücher verweigern das Aufgeplapptwerden, E-Book-Reader geben den Geist auf, Instrumente verweigern die Tonabgabe, ebenso Tonwiedergabegeräte, Computer machen nur noch wirtschaftlich Mögliches, Zeitungen verweigern sich hartnäckig dem Leser, Nachrichtensendungen, Feuilletons, Filmausstrahlungen, Radiosender, TV und Kultur im Internet, nichts, nada, nothing. In diesem Sinne Grüße vom

Dauerverlustverwalter

Aus dem Block …

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.

Jon Fosse bekommt Literaturnobelpreis

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