Michael Helm

Das Missverständnis

Von Albert Camus

Jan kehrt zurück. Vor sehr vielen Jahren hat er seine Mutter und die Schwester Martha verlassen und ist fortgegangen. Er hat sich am Meer ein besseres Leben aufgebaut, hat geheiratet, ist wohlhabend, aber nicht glücklich geworden. Er kehrt zurück. An seiner Seite Maria, seine Ehefrau. Jan sucht nach der alten Heimat, weiß nicht, ob er von den beiden wiedererkannt werden wird. Er möchte gesehen, erkannt und geliebt werden.

Also macht Jan die Probe und gibt sich als fremder Gast aus, der in der kleinen Pension der beiden Frauen ein Zimmer sucht. Was er nicht weiß: Seit Jahren überfallen die beiden in ihrer Not einsame, wohlhabende Gäste und lassen die Leichen im Fluss verschwinden. Was Martha und die Mutter nicht wissen: Dass ihrem nächsten Verbrechen der Bruder, der eigene Sohn, zum Opfer fallen wird. Ein Missverständnis. Eine Tragödie. Camus macht aus diesem Stoff sein zweites Theaterstück nach Caligula (1938). 

Es geht um die Wahrheit, die sich die Protagonisten gegenseitig vorenthalten. Jan verschweigt, wer er ist. Verschweigt seine Motive, spielt ein Spiel, das tragisch endet. Seine Frau Maria warnt ihn, mahnt zur schlichten, gerade heraus gesprochenen Ehrlichkeit. Jan schlägt den Rat aus und schickt Maria fort. 

In den Gesprächen der Mutter mit dem fremden Sohn und denen Marthas mit dem unerkannten Bruder schwingt immer die Doppeldeutigkeit ihrer Worte. Sie erkennen einander nicht, obwohl die Möglichkeit des Verstehens in jedem Satz mitschwingt. Das Spiel der Unehrlichkeit nimmt seinen tragischen Lauf. Am Ende bleibt der Mensch einsam und steht seinem nüchternen Leben gegenüber. Hilfe, gar Rettung gibt es nicht. Der alte Knecht, der während des ganzen Stückes auftritt und fast jede Szene in schweigender Kälte begleitet, wird zum Schluss ein einziges Mal sprechen. Ein einziges hoffnungsloses Wort. 

Das Theaterstück „Das Missverständnis“, das Camus 1943 geschrieben hat, wurde ein Jahr später von ihm uraufgeführt. Es erinnert stark an eine Szene im Roman „Der Fremde“. Der verhaftete Meursault liest in seiner Zelle immer wieder einen Zeitungsausschnitt in dem die Geschichte dieses „Missverständnisses“ berichtet wird. Beide Werke sind also nicht nur zeitlich eng miteinander verknüpft. Der Fremde ist 1942 erschienen und war Camus´ erster großer Erfolg. 

In beiden Werken finden sich die Figuren in ein absurdes Leben gestellt, aus dem sie in all ihrer Tragik nicht entrinnen können. Im „Missverständnis“ bliebe allein die Ehrlichkeit im Umgang miteinander. Da sich die Menschen im Stück — die sich eigentlich einander nahe fühlen müssten — nicht ehrlich begegnen, gibt es kein Miteinander, gibt es keinen Ausweg. Statt der Gemeinsamkeit bleibt nur die Einsamkeit und letztlich der Tod. 

Das menschliche Drama des Stückes ist es, sich gegenseitig zu verkennen, weil sich der Einzelne vor den anderen verstellt, sein Selbst verschleiert. Jan möchte von der Mutter und der Schwester gesehen, erkannt und geliebt werden. Doch der Sohn und Bruder wird nicht gesehen. Er wird verkannt und ermordet. 

„Das Missverständnis“ wurde von Hinrich Schmidt-Henkel neu übersetzt und ist 2013 bei Rowohlt in einer aktuellen Ausgabe sämtlicher Dramen erschienen.

mh

Albert Camus
Sämtliche Dramen
Rowohlt, 2013, Hardcover
ISBN 978 3 498 00942 7

Aus dem Block …

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.

Jon Fosse bekommt Literaturnobelpreis

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