Michael Helm

Wortschatzreduzierung in C-Zeiten

Aufgelesenes VI

Gestern schrieb mir eine langjährige Zuhörerin: „Reden Sie jetzt nur noch mit Vögeln?“ 

Sie hatte aufmerksam meine letzten Beiträge Aufgelesen und das literarische Leitmotiv chirurgisch offengelegt, um nicht zu sagen seziert. (Neuere Zuschriften werden sich nun sicherlich mit medizinischen Vokabeln in C-Zeiten auf meinem Block befassen!) 

Mir war das mit den Buchfinken und Waldlaubsängern ja auch schon aufgefallen, von sprechenden Gänsen ganz zu schweigen. Doch meine Wortschatzreduzierung in C-Zeiten ist ein offensichtliches Problem. 

Ich sitze den ganzen Tag zu Hause. Den Supermarkt darf ich nicht besuchen. Mit meinem Buchhändler darf ich nicht über Neuerscheinungen (und Kafka) quatschen. Nicht einmal die Bibliothekarin meines Vertrauens darf ich besuchen, also gibt es von ihr auch keine Nicht-Buchempfehlungen die stinken mehr. (Siehe Blockeintrag vom 13.06.2016 oder akustisch in der Hörbar.) Live-Lesungen darf ich erst recht nicht mehr geben. 

Ich komme zunehmend aus der Übung. Das Sprechen beginnt mir schwerzufallen. Ich bin mundtot. 

Und wenn ich das Haus verlassen darf, um meinen täglich Spaziergang zu verrichten — ich führe immer das Rezept meiner Hausärztin „Patient muss an die frische Luft“ mit — dann reduziert sich mein Vokabular auf das seltene „Morgeen“ oder „Tach auch“. Immer aus gebotener Entfernung, versteht sich, aus Rufweite herübergejodelt sozusagen.

Und da ich unverkennbar im Ruhrpott lebe, kann ich zwar mittlerweile durch ausgedehnte Wälder spazieren (bei deutlich besserer Luft in C-Zeiten), aber das Vokabular ist eigentlich mit einem einzigen Wort in diesen Tagen deutlich umrissen: „Maaahlzeit!“

Bleibt mir nur noch das Tirilieren mit den geflügelten Genossen. Bei so wenig menschensprachlicher Anwendungspraxis nutzt doch alles Lesen der Welt nichts mehr.

Seien Sie also abschließend gegrüßt mit einem hoffnungsfrohen „Tschilp“.

mh

Aus dem Block …

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.

Jon Fosse bekommt Literaturnobelpreis

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