Kaspars Gedankengang IV
… abends lese ich gerne noch ein paar Gedichte vor dem Einschlafen. Für die kurze Form ein wunderbarer Moment … Wenn sie mir gefallen, lese ich sie mehrfach, langsam, Wort für Wort … und ihren Klang nehme ich hinüber in den Schlaf.
Seit einigen Wochen liegt das Buch der Lieder von Heinrich Heine auf meinem Nachttisch. Ich habe es schon häufig gelesen oder darin geblättert, weil ich ein bestimmtes Gedicht gesucht hatte und dann jene rechts und links wieder entdeckte. Im besten Falle lese ich seine Gedichte laut, um ihren Klang selbst zu hören, … mitzubekommen, was meine Stimme und Heines Worte in mir anrichten … diesmal die Düsseldorfer Ausgabe:
Heinrich Heine
Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke
Düsseldorfer Ausgabe
Hrg. von Manfred Windfuhr
Hoffmann und Campe, 1975
ISBN 3-455-03001-7
Die ersten Gedichte der Ausgabe fallen mir zu leicht, ich lese sie so weg … frage mich, warum … stocke … mir wird klar, dass ich nicht mehr mit dem Bezug lese, den ich noch als Schüler dazu hatte … hatte ich? … Lese alte Tagebücher und fühle mich bestätigt. Damals noch eine deutliche Hinwendung zu einer „düsteren“ Romantik. Aber Heines Ton der frühen Gedichte, die sich noch an die Romantik anlehnen, sagen mir kaum noch etwas … sie bleiben nicht mehr hängen … Auch scheinen mir, die Gedichte zielen weniger auf eine Veröffentlichung in einer Buchausgabe. Vielleicht hatten sie eine andere Wirkung, hier und da gelesen in Zeitschriften und Journalen, in denen sie Heine vorher veröffentlichte …
Im Vorwort betont Heine die chronologische Anordnung im Buch der Lieder und das er später immer wieder hier und dort eine kleine Änderung vorgenommen habe. In der Düsseldorfer Ausgabe stehen sich dann Gedichte letzter Hand des Buchs der Lieder und die Formen der gleichen Gedichte, wie er sie in Zeitschriften drucken ließ, auf den Seiten direkt gegenüber … spannend, weil man sehen kann, was er dann noch änderte. In der Regel Kleinigkeiten, die den Ton nicht variieren … Ich denke dann darüber nach, was ihn zu dieser oder jener Abwandlung bewogen hat … Manchmal eine Idee dazu, manchmal auch keine … Seltener fallen einzelne Strophen weg. Das ist dann schon auffallend und lässt Raum für Interpretationen …
… überhaupt die Vorworte Heines … Mir kommt die Idee, einmal etwas nur über die Vorworte seiner Bücher zu schreiben. Das ist ein Genuss für sich.
„(…) Nicht ohne Befangenheit übergebe ich der Lesewelt den erneueten Abdruck dieses Buches. Es hat mir die größte Ueberwindung gekostet, ich habe fast ein ganzes Jahr gezaudert, ehe ich mich zur flüchtigen Durchsicht desselben entschließen konnte. Bey seinem Anblick erwachte in mir all jenes Unbehagen, das mir einst vor zehn Jahren, bey der ersten Publikazion, die Seele beklemmte. Verstehen wird diese Empfindung nur der Dichter oder Dichterling, der seine ersten Gedichte gedruckt sah. Erste Gedichte! Sie müssen auf nachlässigen, verblichenen Blättern geschrieben seyn, dazwischen, hie und da, müssen welke Blumen liegen, oder eine blonde Locke, oder ein verfärbtes Stückchen Band, und an mancher Stelle muß noch die Spur einer Thräne sichtbar seyn… Erste Gedichte aber, die gedruckt sind, grell schwarz gedruckt auf entsetzlich glattem Papier, diese haben ihren süßesten, jungfräulichsten Reitz verloren und erregen bey dem Verfasser einen schauerlichen Mißmuth. (…)“
Heinrich Heine
Vorrede zur zweiten Auflage
(obige Ausgabe, S. 563)
Scheinbar ging es ihm nicht anders als mir? … Ich will mir das nicht anmaßen, zu denken, habe es aber schon getan …
Dieser Ton der Vorworte ist der Heine-Ton, den ich so schätze: ironisch, auch selbstironisch, der Ton eines Spötters, der kein Blatt vor den Mund nahm und sich bestimmt nur selten etwas vormachen ließ …
Dieser Ton ist in den späteren Gedichten des Bandes schon vernehmbarer … so wunderte es mich nicht, dass ich seine Nordseegedichte dann mit viel größerer Lust las, als früher … habe mir einige herausgeschrieben, die von mir bisher nur wenig Beachtung gefunden hatten … dafür hat es sich gelohnt, wie es sich immer lohnt, ein altes Buch, auch zum wiederholten Male zur Hand zu nehmen … die Musik bleibt nie dieselbe … und bei Heinrich Heine war es bestimmt nicht zum letzten Mal …
Kaspar Hauser