Die Verlegerin und Autorin Franziska Röchter hat mich im Interview für den Blog auf Das Gedicht gefragt, was mich an Annette von Droste-Hülshoff fasziniert. Wie alle Fragen, die man in Interviews beantworten soll, ist das eine, auf die ich zwei Arten von Antworten weiß.
Interview von Franziska Röchter im Online-Forum der Zeitung Das Gedicht. Link
Die erste Art zu antworten, ist reiner Pragmatismus. Man kennt und schätzt die Werke seit Jahren. Sie sind einem vertraut. Programme anderer Rezitatoren hat man gehört. Man war an den Orten ihres Lebens in Münster, auf Schloss Hülshoff und im Rüschhaus, auch am Bodensee auf der Meersburg. Die andere Art zu antworten ist kompliziert. Ich versuche dann zu sagen, was schlecht in Worte zu fassen ist. Am liebsten würde ich dann nur antworten: „Kommen Sie auf die Droste-Lesung. Da hören Sie doch alles zwischen den Zeilen.“ Aber das ist natürlich keine zufriedenstellende Antwort.
Annette von Droste-Hülshoff lese ich so lange schon, wie den anderen großen Nordrhein-Westfalen, Heinrich Heine. Hat räumliche Nähe etwas mit Vorliebe zu tun, zumal bei Menschen, die in einem anderen Jahrhundert hier gelebt haben?
Pragmatische Antwort: Räumliche Nähe zieht, wenn es um die Ankündigung einer Lesung geht. Sehr pragmatisch, oder?
Das Münsterland zur Droste-Zeit ist mir nicht vertrauter, als einem Berliner, der noch nie hier war. Dennoch stehe ich auf der Meersburg im Droste-Zimmer im Turm und schaue über den Bodensee und über die Alpen und glaube etwas zu verstehen. Vielleicht geht die Fantasie mit mir durch und ich sehe nur, was ich sehen möchte? Der Ort scheint plastisch zu machen, was in Biografien steht. Das möchte ich gerne denken. Zweifel bleiben. Es sind meine Vorstellungen, die prägend dafür werden, wie ich ein Gedicht lese, das die Dichterin hier geschrieben hat.
Lese ich Mondesaufgang bei Lesungen, dann denke ich an die Meersburg. Ich kann gar nicht anders. Dann ist das Gedicht ausgesprochen und im Raum bleibt diese Stille. Das geht mir gerade bei Gedichten der Droste-Hülshoff so. Die Stille bleibt, das Gedicht bleibt und irgendetwas ist passiert. Ich will gar nicht erst fragen, was. Es sind diese Momente bei Lesungen, die mich berühren … Es sind tolle Momente. Am liebsten würde ich gar nicht weiterlesen, einfach nur aushalten, der Stille dieser Lyrik nachspüren …
Im Radio käme längst schon wieder irgend etwas, geschweige denn in anderen Medien. Das permanente Gebrabbel eben.
Übrigens wurde Annette von Droste-Hülshoff am 10. Januar 1797 geboren. Spielt das eine Rolle?
Pragmatische Antwort: Geburtstage und Jubiläen ziehen bei der Ankündigung einer Veranstaltung. Und beim Schreiben einer Block-Notiz, wie dieser hier. Sehr pragmatisch, oder?
Michael Helm
Der Todestag George Orwells
Am 21. Januar 1950 starb George Orwell in London. Seine Werke sind nie ganz in Vergessenheit geraten und heute so aktuell wie zur Zeit ihrer Entstehung. Im Augenblick läuft 1984 als Bühnenbearbeitung mit großem Erfolg im Düsseldorfer Schauspielhaus. Ich habe die Inszenierung noch nicht gesehen, aber das Stück und die Lektüre des Buches stehen bei mir fest auf dem Programm. Ist es doch immer spannend, einem Werk zu begegnen, das man in seiner Schulzeit gelesen hat. Heute nehme ich es wieder zur Hand mit einem Kopf voller anderer Erfahrungen und neuer Ideen.
mh
Seien Sie willkommen!
Ich bin kein Blogger! Und nun ein Block? Auch noch falsch geschrieben? Seinem nahen Verwandten, dem Blog, soll er allenfalls ein kleiner Bruder sein. Ein paar hingeschriebene Notizen, eben wie auf einem altmodischen Block. Kleine Gedanken, die bei Lesungen untergehen, in Büchern ewig Randnotiz bleiben, bis… ja bis. Ich weiß es doch auch nicht! Vielleicht werden sie ja einmal Erleuchtung. Oder sie bleiben, was sie immer schon waren: Schnipsel, wie der sehr geschätzte Kurt Tucholsky sie einmal nannte.
Wenn sie unterhaltsam wären, schön. Wenn sie des geneigten Lesers Gedanken auf einen kleinen Umweg führten, super. Wenn sie zum Grübeln anregten, wunderherrlich!
Ihr Michael Helm
Aus dem Block …
vorbei
ich kann sie drehen und wenden ich finde meine komfortable ansicht der dinge nicht wieder
Jon Fosse – Melancholie
Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.
Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?
Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.
Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.
Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.