Michael Helm

Kafka und der Bibliothekar

Als ich eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand ich mich in meinem Bett zu einer ungeheueren Leseratte verwandelt? So klingt es oft, wenn „wichtige“ Menschen von ihrer frühen Literaturberufung sprechen. Da haben bedeutende Persönlichkeiten Kafka mit zehn, Camus mit zwölf und den Ulysses mit vierzehn Jahren gelesen. Da erbleicht jeder Leser in ehrfürchtiger Bewunderung. Ich möchte mich dieser literarischen Früherweckung auch gerne rühmen. Leider hat die Sache mit Kafka in meinem Leben einen sehr prosaischen Haken. 

Es gab in meiner Kindheit zwei Menschen, die mein Leben beeinflusst haben: Kafka und mein Bibliothekar. Beide sind längst gestorben. Aber was hatten die in meinem jungen Dasein zu schaffen, das sich weder um Kafka noch um Bücher scherte? Der eine hat im Kinderregal gar nichts verloren und der andere schlich sich einfach durch die Hintertür meines jugendlichen Alltags. Mein gänzlich unpoetischer Alltag lag zwischen verhassten Diktaten über einen gewissen Detektiv McScharfsinn, der seine dämlichen Fälle im Schulbuch löste und den Raumschifffantasien eines Jungen, die in keinem Deutschaufsatz gut ankamen. »Das ist Schund!«, hatte meine Lehrerin wohl angenommen und ich bekam es verblümt um die Ohren gehauen. Zumal ich dämlich wieder einmal ziemlich dähmlich geschrieben hatte. 

Es war zu der Zeit, als alle für mich die so existenzielle Frage zu klären suchten: Warum liest der Junge nicht! Meine Eltern hatten es aufgegeben. Meine Lehrerin beharrte: »Wenn der nicht endlich liest, dann bekommt er nie eine gute Note!« Mir war Lesen zu anstrengend und langweilig obendrein! Ratlos vertraute man mich also einem Freund an, einer längst verwandelten Leseratte. Der verschleppte mich in eine Bibliothek, eher eine Minibibliothek. Aber Leseratten hausen bekanntlich in schummrigen Löchern. Und dort harrte meiner – ohne dass ich etwas Böses getan hätte – jener Bibliothekar, der keinen Tag ohne Kafka zu Bett ging. 

Kafka und der Bibliothekar, gesprochen von Michael Helm

Er thronte zwischen all seinen Büchern. Er war der Herr der Bücher. Ziemlich dick, eine imposante, altväterliche Gestalt, die ins Regal griff wo und wann sie es wollte. Und er drückte mir lachend das Zeug in die Hand, das Kinder damals so lasen. Das war die Zeit bevor wir später alle auf der Leinwand nach Hogwarts und nach Mordor gezogen sind. Die ??? hieß das, Geheimnis um… oder Die fünf Freunde. Ein Buch war so geschrieben wie das andere. Trotzdem war´s irgendwie spannend. Außerdem gab es hier Raumschiffe. Es gab fremde Welten, die nie ein Mensch zuvor gesehen hatte. Wenn ich begeistert erzählte, lächelte mir der Bibliothekar zu und erzählte seinerseits von Büchern, die er kannte. Das waren unendliche Welten. 

So kamen einige Kinder, die ihn wöchentlich an seinem Ausleihtisch der Bücherei umschwärmten. Es war ein Ritual geworden an einem Ort, der Schutz bot vor Aufsätzen und McScharfsinnigkeiten. Und dähmlich waren die Geschichten überhaupt nicht mehr. Nur hatte ich das alles nicht gemerkt. 

Eines Tages redeten wir dann mit dem netten Bibliothekar nicht mehr bloß über Die ???. Plötzlich waren da seltsame Geschichten eines gewissen Karl Mays und eines Erich Kästners. Einer nannte sich Ernest Hemingway, der war Amerikaner und hat mich unglaublich beeindruckt. Es war die Story eines alten Kerls, der tagelang im kleinen Fischerboot auf dem Meer gegen das Wetter, gegen die Einsamkeit und die Haie ankämpfte. Solche Bücher lagen da rum. Der Bibliothekar ließ sie einfach für uns herumliegen. Chaos war sein hintersinniges Prinzip. Denn zwischen den vielen Büchern lag eines schönen Tages Franz Kafka. 

»Kenne ich nicht.« – »Lies mal.« – »Mmh, mal schauen.« 

Die ersten Seiten habe ich geschafft. Da wurde einer verhaftet und wusste nicht warum? Man verhörte ihn und ließ ihn dann wieder laufen? Ich verstand´s nicht und legte es weg. Der Bibliothekar lächelte. Ich kam wieder. Ich habe es über die Jahre immer wieder angefangen. Heine lag dort rum und E. A. Poe. Wir redeten. Über dieses, über jenes. Und der Bibliothekar lächelte. Aber wir lasen und lasen und diskutierten freudig mit dem alten Herrn über unsere neuen und unsere alten Helden. So ganz nebenbei.

Später haben wir ihm bei der Ausleihe geholfen, beim Organisieren der Bibliothek, sogar beim Einkauf. Die neuen ??? – natürlich – aber für die Jüngeren! Die Kafkawerksausgabe durfte ich anschaffen. Der Bibliothekar hatte sie längst zu Hause. »Ich gehe nie ohne meinen Kafka zu Bett,« sagte er mir schmunzelnd. Wir redeten also über Kafka. Und ich würde noch heute gerne mit ihm darüber reden. 

Es gibt sehr alte und versteckte Gründe dafür, warum wir etwas tun. Warum ich in jeder Stadt in die ich komme, Bibliotheken und Buchhandlungen suche? Warum ich mich bei Lesungen besonders in kleinen Büchereien wohlfühle? Warum Jungs bei mir in Projekten wie Orks brüllen dürfen, wie Gollum sabbern oder wie Bilbo Abenteuer bestehen? Ich denke, ich möchte einfach gerne wie dieser Bibliothekar sein. Da sein für Jungen, wie auch ich einer gewesen bin. Und dann vielleicht mal ein Buch von Ernest Hemingway oder Kafka rumliegen lassen. Wenn das obendrein Spaß macht, um so besser. 

Michael Helm

Aus dem Block …

Der Fremde

gesprochen von Ulrich Matthes

Meursault eine Stimme geben? Wer könnte das besser als Ulrich Matthes. Nach meiner Camus-Lektüre in den vergangenen Wochen, habe ich mir „Der Fremde“, gesprochen von Ulrich Matthes, angehört. Bei Hörbüchern bin ich sehr zurückhaltend. Ich mag einige sehr bekannte deutsche Hörbuchsprecher überhaupt nicht. Zu einer Stimme, auf die ich mich stundenlang einlasse, habe ich eine besondere Beziehung. Das muss passen. Das ist nicht zu begründen. Das ist eine Bauchentscheidung. Matthes passt. 

Seiner Stimme kann ich zuhören, auf dem Sofa, auf einem Spaziergang, auf dem überfüllten Bahnsteig. Ich verliere nicht den Faden, wie es mir bei anderen häufig passiert. Er hält mich immer im Stück. 

Camus´ Werke zu sprechen, insbesondere den Fremden, Meursault, ist eine besondere Herausforderung. Ulrich Matthes hält sich zurück, gibt dem Text genau die lakonische Stimmung, die er braucht. Gleichzeitig wirkt die Stimme in den Detailbetonungen nie monoton. Es entstehen Bilder beim Hören, wie sie mir selbst beim Lesen nicht gekommen waren, obwohl ich bei der Lektüre viel mehr Zeit hatte. Rhythmus, Tempo, Pause, das alles wird wunderbar in eine Stimme gebracht, wie ich sie mir für Meursault vorstelle. Diese Stimme bleibt in meinem Kopf. Dank des Autors, dank des Sprechers.

mh

24.08.1922 – Tucholsky vor einhundert Jahren

„Wir sind fünf Finger an einer Hand“, schreibt Kurt Tucholsky in einem Artikel der Weltbühne 1922. Die fünf aus dem Zitat, das sind Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Kurt Tucholsky selbst. Tucholsky ist eigentlich kein Pseudonym, aber unter all diesen Namen veröffentlichte er in den verschiedenen Zeitungen. Und der Name Tucholsky trollte sich eben wie ein solches im Reigen der anderen Pseudonyme. Zusammen hatten sie die Schlagkraft, die der 1890 in Berlin geborenen Tucholsky aufbringen musste, um gegen die Missstände in der jungen Weimarer Republik anzuschreiben, für die Freiheit und für die Demokratie. „Wir alle Fünf lieben die Demokratie.“

Wir alle Fünf
von Kurt Tucholsky

Die rechtsstehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als »den vielnamigen Herrn« hinzustellen, »der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt«. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma.

Aber wir stammen alle Fünf von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm.

Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte Original-Deutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offiziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereit halten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste Kavallerie-Wachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, dass man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den ›gemeinen Mann‹ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Kommis.

Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht ›gleich‹ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest.

Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf.

Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, dass es schallt, und dass die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke.

Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.

Kurt Tucholsky
Die Weltbühne vom 24.08.1922