Wenn ich in Berlin und Hamburg bin, verbinde ich die Reisen gerne mit Theaterbesuchen. Da die Sommerpause am Berliner Ensemble noch nicht begonnen hatte, haben wir noch zwei schöne Abende dort verbringen können:
Erstens eine Lesung mit Katharina Thalbach. Gabriele Tergit: „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“. Wenn Frau Thalbach die Bühne betritt, hat sie das Publikum auf ihrer Seite. Der Witz, den sie in Gestik, Mimik und in ihre Sprechweise legt, ist unübertroffen. Lange habe ich nicht mehr so viel gelacht, obwohl die Lesung viele nachdenkliche Momente hat.
Zweitens eine Inszenierung von Luk Perceval. Lion Feuchtwanger: „Exil“. Sehr starkes Bühnenbild, es bestand aus zahlreichen Stühlen, die zusammengestellt den Bühnenaufbau bildeten. Eine zurückgenommene Inszenierung, die von den Darsteller*innen und der Sprache lebte. Feuchtwanger war lange nicht mehr präsent. An dem Roman Exil arbeitete er in den späten 1930er Jahren. Er erschien 1940. Die Hauptfigur, ein Komponist, ist vor den Nationalsozialisten aus München geflohen und lebt bereits zwei Jahre im Pariser Exil. Das Leben im Exil, der Kampf gegen den immer stärker werdenden Einfluss der Nationalsozialisten, die Intrigen, das Scheitern in der eigenen exilierten Familie, das sind Themen, die auch heute wieder brisant erscheinen.
Beide Theaterabende haben Lust gemacht, wieder öfter nach Berlin zu kommen.
Aus dem Block …
vorbei
ich kann sie drehen und wenden ich finde meine komfortable ansicht der dinge nicht wieder
Jon Fosse – Melancholie
Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.
Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?
Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.
Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.
Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.