Manche Bücher brauchen ihr Zeit. Keine neue Erkenntnis. „Berlin“ von Jason Lutes steht schon zu lange in meiner Graphic-Novel-Ecke, sodass ich mich an den Anblick des ungelesenen Mammuts schon zu gewöhnen begann. Comics sind Heftchen? Falsch. Dieser Comic ist ein Mammut von einem Buch. Ein Opus Magnum, wie ein Kritiker schrieb.
Begonnen hat es der amerikanische Zeichner Jason Lutes Mitte der 1990er. Eine Trilogie ist es geworden, die in meinem Buch in vereinter Form in Deutsch herausgegeben vorliegt. Über zwanzig Jahre hat er an allen drei Bänden gezeichnet. Lutes´ Geschichte beginnt im Berlin 1928 und endet 1933.
Ist es da ein Wunder, dass ich das dicke Mammut gerade jetzt aus dem Regal ziehe? Wieder einmal in Berlin gewesen, gerade vorher noch in Weimar. Aber gerade dann fällt mein Blick auf die eine Stelle im Regal? Das Schicksal sollte ich vielleicht nicht gleich bemühen, eher die Irrungen und Wirrungen eines Gehirns, das den geraden Weg verabscheut.
Die Weimarer Republik rückte nicht nur in Weimar immer wieder in meinen Fokus der letzten Zeit. Der Untergang unserer ersten Demokratie in Deutschland. Nicht an ihren Kinderkrankheiten eingegangen, von den Nationalsozialisten zerstört, habe ich gerade noch in der Ausstellung zur Weimarer Republik gehört und gelesen. Im Anbetracht der Tatsache, dass sich so viele Menschen wieder einen scheinbar starken, diktatorischen aber doch menschenverachtenden Staat zu wünschen scheinen, ist der Blick auf die letzten Jahre dieser Republik verständlich.
Ich bin kein Comic-Kenner. Die Zeichnungen Lutes sollen in einer europäischen Tradition stehen. Schwarz-weiß gezeichnet, in ruhigen Bildern mit klaren Konturen. Nicht actionlastig. Sie scheinen mir eher eine Stimmung wiederzugeben, als eine dynamische Handlungsabfolge. Es ist die Stimmung der späten 1920er, die mich interessiert. Und der ungewöhnliche historische Blick eines amerikanischen Zeichners auf diese vergangene, bedeutsame Zeit im Berlin, das ich im Moment so gegenwärtig vor Augen habe. Hier verwirren sich auf einmal so viele Motivationsfäden.
Kommt hinzu, dass mir Kurt Severing, die Figur gleich zu Beginn, so vertraut vorkommt. Fiebrig schlage ich nach: Kann doch nur Kurt Tucholsky gemeint sein, der gleich einem gewissen Joachim Ringelnatz in die Arme läuft. Na wenn ich da nicht gleich weiterlese, … sorry, schaue …
Ende einer Reise
Weimar – Berlin – Rheinsberg – Potsdam.
In Weimar fühle ich mich immer wie zu Hause. Weimar ist für mich kulturelle Erholung. Spaziergänge an der Ilm, Anregungen in den Geschichts- und Dichtermuseen, Pausen in den Kaffees. Berlin ist aufregend, hinter jeder Straßenkreuzung eine neue Erfahrung, ein neuer Gedanke, ein neues Bild. Theater, Kunstmuseen, Straßenevents. Menschen. Menschen. Menschen. Rheinsberg war eine neue Erfahrung. Abgeschieden, erholsam, aber etwas vom Schuss. Ein Tucholsky-Museum gehört nach Berlin. Der Mann hat mehr geschrieben, als Rheinsberg. Tucholsky hat sich eingemischt in die Angelegenheiten der jungen deutschen Republik, in die Berliner Angelegenheiten. Das geht uns gerade jetzt etwas an. Und Potsdam lebt von seinen Schlössern, auf die ich gern verzichten kann. Ja, ja, Architektur und Kunstgeschichte. Macht mal. Potsdam war für mich Filmabende und Filmmuseum, das Haus der Wannseekonferenz und das Holländische Viertel. Man ist zügig wieder im Theater in Berlin. Ich liebe Städte, aus denen man auch schnell einmal weg, das heißt ganz woanders ist. Nichts ist so schön, als sich wieder etwas Neues anzuschauen oder etwas Altes neu zu entdecken.
Berlin – Ein Reiserückblick
Eine sehr geschätzte Kollegin hatte einen Auftritt an der Ernst Busch Hochschule für Schauspielkunst in Berlin. Das war eine besondere Gelegenheit. Modernes Puppenspiel mit großen Puppen, die von mehreren Spieler*innen geführt werden. Wir hatten ja schon einen tollen Abend in Weimar erlebt und jetzt auch noch das. Die beiden Inszenierungen, die wir gesehen haben, machten Lust auf mehr. Es ist für mich immer wieder beeindruckend, dass sich unser Blick immer gleich der Puppe zuwendet. Dass sie Eigenleben bekommt. Eine eigenständige Person zu werden scheint. Man mag die Spieler*innen dabei beobachten. Der kindliche Blick für die Puppe siegt.
Berlin – Ein Reiserückblick
Wenn ich in Berlin und Hamburg bin, verbinde ich die Reisen gerne mit Theaterbesuchen. Da die Sommerpause am Berliner Ensemble noch nicht begonnen hatte, haben wir noch zwei schöne Abende dort verbringen können:
Erstens eine Lesung mit Katharina Thalbach. Gabriele Tergit: „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“. Wenn Frau Thalbach die Bühne betritt, hat sie das Publikum auf ihrer Seite. Der Witz, den sie in Gestik, Mimik und in ihre Sprechweise legt, ist unübertroffen. Lange habe ich nicht mehr so viel gelacht, obwohl die Lesung viele nachdenkliche Momente hat.
Zweitens eine Inszenierung von Luk Perceval. Lion Feuchtwanger: „Exil“. Sehr starkes Bühnenbild, es bestand aus zahlreichen Stühlen, die zusammengestellt den Bühnenaufbau bildeten. Eine zurückgenommene Inszenierung, die von den Darsteller*innen und der Sprache lebte. Feuchtwanger war lange nicht mehr präsent. An dem Roman Exil arbeitete er in den späten 1930er Jahren. Er erschien 1940. Die Hauptfigur, ein Komponist, ist vor den Nationalsozialisten aus München geflohen und lebt bereits zwei Jahre im Pariser Exil. Das Leben im Exil, der Kampf gegen den immer stärker werdenden Einfluss der Nationalsozialisten, die Intrigen, das Scheitern in der eigenen exilierten Familie, das sind Themen, die auch heute wieder brisant erscheinen.
Beide Theaterabende haben Lust gemacht, wieder öfter nach Berlin zu kommen.
Berlin – Ein Reiserückblick
Der Faltenwurf, ein dezent vorgestrecktes Knie unter dem Umhang. Immer wieder faszinieren mich die griechischen Skulpturen im Alten Museum und im Pergamon Panorama-Museum. Ich kann nicht vorbeigehen. Wenn doch, blicke ich oft noch einmal zurück, bleibe wieder stehen. Es ist die Kunst der Andeutung. Dennoch bekommen wir eine genaue Vorstellung von diesem Körper. Ebenmaß. Perfektion. Idealbild des Menschen, wie es sich die griechischen Künstler dachten.
Berlin – Ein Reiserückblick
Ich war froh, dass Emmanuel Macron seinen Staatsbesuch abgesagt hatte. Ich wüsste nicht, wie voll und umständlich es dann geworden wäre. Ich persönlich fand mein Date mit Pallas Athene im Alten Museum auch aufregender und die Athene sehr viel attraktiver. Aber Hauptstädter*innen gehen mit solchen Staatsbesuchen ja eh sehr gelassen um. Den Christopher Street Day haben wir dann aber leider verpasst. Das bunte Treiben finde ich wunderbar. Demos gab es während unseres Besuchs allerdings genügend. Am liebsten sind mir jedoch die abendlichen „Demonstrationen“ auf den Spreewiesen; weltoffen, gelassen, ein bisschen herzlich sprachverwirrt, einfach beieinander sitzen, tanzen, schnacken und gut ist. Wir kommen schon klar.
Berlin – Ein Reiserückblick
Berlin ist laut. Berlin ist quirlig. Schnell denke ich, hier leben, nie und nimmer. Wenn ich dann wieder fort bin, verklärt sich das Bild und ich möchte am Liebsten gleich wieder hin. Wir waren den ganzen Tag in Sachen Kultur auf den Beinen und wurden dennoch nicht müde. (Die Beine wurden es schon.) Von einem Eindruck zum nächsten und immer die Faszination sich auseinanderzusetzen. Das Wetter war so schön, dass wir immer wieder draußen sitzen und ein kleines Päuschen einlegen konnten. In der Provinz sehne ich mich nach Berlin, in Berlin sehne ich mich in die Provinz.
Aus dem Block …
Klassik trifft Rock, schon wieder?
Diese Frage könnte man sich stellen. Rock, Hard Rock, Pop, viele Musiker*innen haben mittlerweile mit bekannten Orchestern zusammen gespielt, live. Die Aufnahmen gab es dann auf CD oder auf allen anderen Kanälen zu hören. Die Ergebnisse waren sehr unterschiedlich. Mit einer Ausnahme, nämlich bei Metallica, fand ich sie nicht unbedingt beeindruckend.
Bei New Model Army ist das etwas anderes. Sie spielten mit Sinfonia Leipzig zusammen. In Leipzig fand das Konzert auch statt. Jetzt kann man die Aufnahme als „Platte“ hören. Ich bin begeistert.
Es bleibt der Sound der Band, das finde ich wichtig. Oft nimmt sich das Orchester angenehm zurück, um dann im Detail wunderbare Klangbilder zu schaffen, die das Stück tragen, begleiten oder ihm eine kleine Nuance verleihen, die ich vorher nicht entdeckt hatte. Es sind Stellen, in denen das Orchester Passagen der Songs mit klassischen Mitteln interpretiert, als wären die Stücke dafür geschrieben. Da wird nicht gezaubert, da produziert sich niemand vor dem anderen. Die New Model Army-Songs, ob alt oder jung, geben auch orchestriert ein unglaublich stimmiges Bild ab. Auch wenn die zwei musikalische Welten sehr weit voneinander entfernt zu liegen schienen. Das gilt nicht nur für die langsameren sondern auch für die Hochtempostücke. Aus zwei musikalischen Welten wird eine einzige.
Das hätte ich gerade bei dieser Gruppe, die ich seit Jahrzehnten gerne höre, nicht unbedingt gedacht. Vielleicht war das ein Fehler, denn diese besondere Art die Songs zu spielen, scheint durchaus in der Musik New Model Armys angelegt zu sein. Schön, wenn man trotz anfänglicher Skepsis so angenehm überrascht wird.
Auftrittsimpressionen
Hier einige Impressionen unseres Auftritts am 09. September 2023:
Die Vorlesewerkstatt war ein Projekt der Aktion „Herford liest ein Buch“, initiiert und organisiert vom Förderverein der Stadtbibliothek Herford, Buch.Bar.
hinten: Michael Helm | Lennard Haubrich | Jan-Hendrik Lobstein | Lennert Waletzko vorne: Maximilian Holtkamp | Anabel Koop | Emily Pautz | Maliha Ahmed
Sechs Wochen hatten die Jugendlichen aller Herforder Schulen an Texten zum Erwachsenwerden in den 1980ern und den 2020ern gearbeitet, ein Coming Of Age zweier Jahrzehnte. Die Lesung war unsere Abschlussveranstaltung in der Stadtbibliothek Herford.