Michael Helm

Unglaubliches in C-Zeiten

Aufgelesenes VII

Es gibt Tage, die sind zum Kotzen. (Schuldigung, aber so heißt dat nun mal bei uns im Pott.) Es gibt Tage, die sind so schnell vorbei, obwohl ich im gewerkschaftlichen Sinne nicht gearbeitet habe. Wenn ich mir jetzt aber anschaue, was ich im März und April so alles gelesen habe, dann muss ich mich schleunigst nach einer anderen Definition für Arbeit umsehen.

Ich führe ein kleines Lesetagebuch und dahinein verirrte sich jüngst mein überraschter Blick. Das sprengt im Augenblick alles Dagewesene. Plötzlich habe ich Zeit für Bücher, die längst im Regalhintergrund verschwunden waren. Jetzt räume ich andere vorwitzige Exemplare aus der ersten Reihe zur Seite und entdecke … Unglaubliches:

Max von der Grün – Stellenweise Glatteis, Flächenbrand, Die Lawine. Wolfgang Koeppen – Das Treibhaus, Tod in Rom. Klaus Böldl – Der Atem der Vögel, Der nächtliche Lehrer. Georg Büchner – mal wieder den Lenz. Hans-Ulrich Treichel, Juli Zeh, Mathijs Deen, Jon Fosse und und und …

Und endlich mal wieder Zeit, mich durch Sachbücher – wie die zur jungen Bundesrepublik – durchzuwälzen. Und niemand ruft an! Nicht einmal mein lieber Freund und Kollege Jürgen E., der dann immer in den Hörer schrie: „Aaaarbeit!“

Gibt’s nicht mehr, aus, finito.

Allerdings …, manchmal vermisse ich sie eben doch, die Schüler, die mich liebevoll nerven, das Publikum, das dann alles wirklich ganz genau wissen möchte, die Veranstalter die dieses und jenes wollen (wer will das nicht?) und die lieben Kollegen, die alles besser gestern erledigt wissen müssen. Ach, was hab´ ich euch alle lieb!

Tja, Arbeit, wie immer man sie definiert, sie kann so schön sein.

mh

PS. Bevor alle besorgt nachfragen: Nein, ich habe meinen Job nicht drangegeben. Aber ich brenne momentan eben nur innerlich. ;)

Bilder der Stille

Aufgelesenes IV

Waldspaziergang

Es ist so leise geworden. Minus 1° Celsius. Buchfinken. Weidenlaubsänger. Kohlmeisen. Ein Buntspecht.

Im Schatten der Stämme Schneereste, auf der sonnigen Seite … Denkwürdige C-Zeiten.

Oma Adele würde hier aufräumen wollen, Klarheit schaffen. Und die klare Struktur verkennen. Das Leben.

Ein Blick auf das Nebenseitige. Die Welt en detail.

Beim Gehen. Gedankenlos. Eindrücklich. Daliegend.

Gedanken. Ein Wort, das mir schon immer gefallen hat: Ilex aquifolium. Einstig, aber nie vergessen, wie das Lied der Vögel.

Worte am Wegrand. Gedanken in schwierigen Tagen.
abseits
jenseits
vergänglich

mh

Verordnung

Aufgelesenes I

Da ich in Corona-Zeiten zu den Chronischen gehöre (jetzt eine ausgewiesene Risikogruppe unserer Gesellschaft) hier die Verordnung meiner Ärztin:

– gesunde Ernährung
– maximal 1x tägl. Nachrichten schauen (mal vergessen, nicht schlimm)
– viel lesen (besser Bücher statt Zeitung)
– Nachdenken einschränken

Will mich vergewissern und bekomme zur Antwort: Ja, wenn es bei Ihnen unbedingt Kafka sein muss! Warum tut es nicht einmal ein Krimi? Aber dann wenigstens nicht vor dem Einschlafen! Die Frau kennt mich zu gut. Und Punkt Nummer vier befolge ich jetzt einfach mal …

mh

Aus dem Block …

Jon Fosse – Melancholie

Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.

Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?

Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.

Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.

Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.

Jon Fosse bekommt Literaturnobelpreis

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