… Anna In – Eine Reise zu den Katakomben der Welt habe ich beendet.
… Ein faszinierender Roman … und mich faszinieren die mythischen Gänge in die Unterwelt schon sehr lange, sei es der Gang des Odysseus in den Hades oder die Geschichten um Orpheus, … sei es der Besuch des Gilgamesch bei Uta-napischti dem einzigen Überlebenden einer von den Göttern verursachten Sintflut im mesopotamischen Epos. Letztlich sucht ja auch im Gilgamesch-Epos der Held die Unsterblichkeit und macht sich auf in die Unterwelt …
… Das Faszinosum dieser Erzählungen beschränkt sich dabei nicht allein auf die alten Mythen …
… Inanna hingegen ist eine Göttin. Sie besucht im sumerischen Mythos ihre Zwillingsschwester Ereškigal, die Herrin des Totenreichs. Sie stirbt. Aus dem Reich der Toten kehrt niemand zurück. Inanna wird jedoch wiedererweckt und kann zurückkehren in die Welt der Lebenden … Sie bricht die Regel …
… Im Roman von Olga Tokarczuk wird Nina Šubur (Begleiterin, Freundin, Bedienstete Inannas) ihre Fürsprecherin in der Oberwelt, während die Herrin im Totenreich gefangen ist. Nina Šubur ist auch die Haupterzählerin des Romans. Es kommen noch andere Erzählerinnen vor — im Falle des Torwächters Neti, ein Erzähler, ein Wesen der Unterwelt — immer einfache Figuren, die die Hauptfiguren begleiten, ihnen zur Seite stehen, sie beobachten. Allein diese Erzählstruktur fasziniert …
… als Nina Šubur um die Rückkehr ihrer Herrin aus dem Totenreich bittet und fleht, findet sie in der männlichen Götterwelt keinen Zuspruch. Die Geschichte, die Olga Tokarczuk schreibt, ist die einer starken weiblichen Heldin. Für mich ist Nina Šubur — oder im sumerischen Mythos Ninšubur — die eigentliche Heldin dieser Geschichte. Es ist, wie es ist, wenn die Mächtigen, die Göttinnen und Götter, Schicksal spielen wollen — es aber die schicksalsbetroffenen Menschen sind, die es leben müssen … die für die göttlichen Entscheidungen geradestehen müssen …
… Im Roman muss eine Person gefunden werden, die an Inannas Stelle — an ihrer Statt in das Totenreich zurückkehrt. Der Regelbruch der Göttin muss seinen Preis haben. Die Unterweltherrscherin Ereškigal ist da unerbittlich. Auch dann wird eine einfache Frau den eigentlichen Heldenmut aufbringen …
… stilistisch ist Anna In – Eine Reise zu den Katakomben der Welt ein wunderbares Buch … und dies weniger in seinen Handlungsschilderungen, als vielmehr in den poetischen Bildern, die beim Erzählen entstehen. Die Kraft dieser Bilder setzt nahtlos an bei den mythischen Vorbildern der sumerischen Geschichten.
Anna In Eine Reise zu den Katakomben der Welt von Olga Tokarczuk Roman, aus dem Polnischen übersetzt von Lisa Palmes Kampa Verlag, 2022
mh
Anna In
von Olga Tokarczuk
… Dafür sind gute Buchhandlungen da, nicht wahr? … Sie geben mir dort in die Hände, was passt, … zu dem passt, was ich just gelesen habe … das weiß mein Buchhändler selbstverständlich, oder? … Er weiß es wirklich …
… er kennt meine Vorliebe für die alte mesopotamische Zivilisation … für Gilgamesch und Enkidu … also drückte er mit Anna In in die Hand. Ich kenne Olga Tokarczuk, die polnische Nobelpreisträgerin, obwohl ich bisher nichts von ihr gelesen habe. Anna In ist das Buch von ihr, das in aktueller Übersetzung ins Deutsche vorliegt … Ich bleibe stutzig! Bis er mich auf den Dreher im Titel aufmerksam macht. Anna In – Inanna. Da fällt der Groschen … Sie ist die sumerische Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit, des Mondes und auch des Krieges. Die Göttin steigt in die Unterwelt, um dort ihre Schwester Ereschkigal zu besuchen …
… Die Unterweltmythen erzählen normalerweise davon, dass niemand zurückkehrt, der ins Reich der Toten gelangt ist. Das droht auch Anna In / Inanna … Der Klappentext bringt Klarheit. „Eine Reise zu den Katakomben der Welt“. Erschienen, wie alle Werke der polnischen Schriftstellerin, im Kampa-Verlag. Die Autorin nimmt sich eines weiteren bedeutenden Mythos´ Uruks neben Gilgamesch an, des Inanna-Mythos´.
… Mythen erzählen von den uralten Fragen der Menschheit, nach Sterblichkeit und Unsterblichkeit, nach dem Sinn unserer Existenz … das bewegte die Sumerer damals, das bewegt die Menschen noch heute …
… Tokarczuk nimmt sich des uralten Stoffes an und erzählt den Mythos auf faszinierende Weise neu … ich habe erst die ersten Kapitel gelesen, aber das hat mich hineingezogen … auch Gilgamesch reiste in die Unterwelt zu Ereschkigal … aber hier bei Tokarczuks Inanna wird ein Mythos auf einzigartige Weise neu gestaltet. Wirkmächtige, poetische Bilder entstehen beim Lesen. Dunkle Gänge und modernde Hallen, vermoost und aus rostigem Metall … über der Erde lesen die Menschen Zeitung, sie haben Strom und fahren in futuristischen Fahrstühlen … die Gärten hängen wie Weltwunder vom Himmel … dennoch geht der Reiz des Alten nicht verloren … die Zeiten wirken wie verflochten ineinander … die Sprache schafft eine zeitlose Welt … das macht viel Lust auf mehr … ich bin sehr gespannt wie es weitergeht …
mh
Aus dem Block …
vorbei
ich kann sie drehen und wenden ich finde meine komfortable ansicht der dinge nicht wieder
Jon Fosse – Melancholie
Ende des 19. Jahrhunderts: Der norwegische Maler Lars Hertervig studiert in Düsseldorf Landschaftsmalerei. Er hat sich ein kleines Zimmer gemietet und verliebt sich in Helene, die fünfzehnjährige Tochter seiner Vermieter. Dieses nicht einmal richtig entflammte Verhältnis findet die Ungnade der Familie. Lars soll die Wohnung verlassen. Das Scheitern der Beziehung scheint Lars Hertervig verrückt werden zu lassen.
Was auf der inhaltlichen Ebene einfach erscheinen mag, nimmt sich in Hertervigs Denken anders aus. Denn von Anfang an ist seine Sicht der Dinge „anders“. Gedanke um Gedanke kreist in seinem Kopf, wiederholt sich, ordnet sich scheinbar neu. Niemals kommt sein Denken zu einem Abschluss. Der Geisteszustand Hertervigs grenzt an Verwirrung und seine Gedanken verwirren sich mehr und mehr durch die ihn befremdenden Erlebnisse. Sind seine Gedanken wahnhaft, Verfolgungsfantasien oder der Ausdruck seiner Realität?
Dies lässt Jon Fosse in seinem Roman „Melancholie“ offen. Er betrachtet das Geschehen aus der Sicht Hertervigs. Er versteht es in einer ausgefeilten, dem Denken dieses Menschen entsprechenden, einfachen Sprache, die subjektive Welt Hertervigs darzustellen. Das ist faszinierend und schwer zu lesen zugleich, denn die unendlichen Gedankenketten Hertervigs wälzen sich über etliche Seiten dahin. Wie einprägsam Fosses Sprache ist, stellte ich fest, als ich das Buch fortlegte. Die ewigen Wiederholungen und Wortketten begannen, von meinem Denken Besitz zu ergreifen, wie musikalische Ohrwürmer. Fast suggestiv haben sie sich in den Kopf eingeschlichen und es brauchte Zeit und Ablenkung, um sich wieder aus dieser zirkulären Gedankenwelt Hertervigs zu befreien.
Jon Fosse hat für das Denken eine Sprache geschaffen, in der Existenzielles einen einfachen Ausdruck findet. In dem, was sich zwischen den Gedankenketten auftut, rührt er an der Grenze des Unbewussten.
Mit der Geschichte Lars Hertervigs ist der Roman nicht zu Ende. Zwei weitere Erzählungen setzen an die Hertervig-Geschichte an, die sich wie die folgenden Akte eines Theaterstücks ausmachen. Generationen später werden Personen betrachtet, die mit Hertervig in familiärer Beziehung standen. Auch in diesen Erzählungen ist es der faszinierende Stil Fosses, der einen in seinen Bann zieht.