Michael Helm

Kaspars Gedankengang IX

vom 15. Dezember 2021

… „Im EngSoz (Englischer Sozialismus) herrscht eine einzige Partei über das Land und die Großmacht Ozeanien. Ihr Führer ist der Große Bruder“ (s. voriger Gedankengang) … Länger darüber nachgedacht, denn eigentlich ist der Große Bruder im Roman 1984 gar keine Person … zumindest wird in Frage gestellt, dass es diesen Großen Bruder überhaupt gibt … oder ob es sich um eine große Projektionsfläche handelt? …

… interessant, weil zur Zeit, als Orwell 1948 den Roman schrieb, seine zeitliche Nähe zu Diktaturen, die einer Art Führerkult anhingen, noch geringer war: der Führerkult in Deutschland bei den Nationalsozialisten, aber auch die Stalinfixierung in der Sowjetunion. Auch wenn es heute wieder Tendenzen gibt, bei denen eine „starke Figur“ an die Spitze autoritärer Strukturen gesetzt werden mag, so erscheint mir heute die Gefahr von diktatorischen Systemen (oder deren Vorläufern) vermehrt darin zu bestehen, dass sie an sich und in sich die totalitäre Unterdrückung darstellen und ohne eine Führer-Person auszukommen scheinen, ohne den großen Diktator. Heutige Überwachung ist systemisch zu denken. Wir unterwerfen uns einem „Netz“ technischer Möglichkeiten, auch im Anbetracht der Gefahr einer totalitären Nutzbarkeit …

… Orwell deutet das in seinem Roman schon an … der Große Bruder ist omnipräsent (auf Plakaten und Videowänden, im Denken der Leute …), aber es muss ihn als Person nicht einmal mehr geben … Die Partei wird auch nicht durch andere Führungspersönlichkeiten repräsentiert, sondern sie ist als Partei selbst Ausdruck des diktatorischen Prinzips. Köpfe sind auswechselbar … In 1984 herrscht eine Parteidiktatur. Der Große Bruder wird zur Projektionsfläche all dessen, was die Parteidiktatur ausmacht. Er ist unfehlbar. (Unpassende Äußerungen werden im Ministerium für Wahrheit nachträglich korrigiert.) Er ist unsterblich. (Niemand weiß genau, wann er geboren wurde und wie lange er schon als Parteigründer angeblich herrscht.) … Der Große Bruder ist, was die Partei will, dass er es sei …

… Orwell deutet an, wie eine Diktatur ohne Führerkult aussehen könnte. Denn die Diktatur in 1984 kommt – konsequent weitergedacht – früher oder später auch ohne den Führerkult um den Großen Bruder aus …

.. stellt sich für uns heute die Frage, inwieweit wir systematisch manipuliert werden, indem wir uns der Datenvernetzungsmaschinerie anvertrauen. Wer manipuliert hier eigentlich wen? Ein solches System denkbarer totalitärer Prinzipien der Manipulation des Einzelnen bedürfte jedenfalls keiner Führerfigur mehr … nicht einmal mehr eine einzelne Herrscherpartei …

Kaspar Hauser

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