Michael Helm

Kaspars Gedankengang …

vom 24. März 2022

… Nur selten zieht er sich Anzug und Krawatte an, doch ab und an tut er es. Dass ihm ausgerechnet in diesem Moment, da er in eine andere Person geschlüpft zu sein scheint, eine merkwürdige Begegnung widerfährt, ist vielleicht noch nicht ungewöhnlich. Dass ihn die Dame in der Bar mit jemandem verwechselt, gut. Dass sie ihn jedoch unangenehm mit jemandem konfrontiert, der er sein soll, aber keinesfalls sein kann (sein möchte), ist dann schon bedrückend. Könnte ich dieser Andere wirklich gewesen sein, fragt er sich doch …

… Wie so oft in seinen Werken spielt Haruki Murakami mit den Welten, von denen man oftmals nicht weiß, welche von ihnen die fiktive, traumhafte und welche die scheinbar wirkliche, reale Welt ist … Der Erzähler in der Titelgeschichte Erste Person Singular kann sich seiner Welt, seinem Ich nicht mehr sicher sein. Er tritt in eine veränderte Welt. Wie das in Murakamis Werken passiert, ist oft wunderbar … In dieser Geschichte machen Kleider sprichwörtlich Leute, also andere Menschen. Wie genau Murakami das beobachtet und erzählt, ist alles andere als allbekannt. Kleine erzählerische Finessen rücken das Alltägliche plötzlich aus ihrem gewohnten Zusammenhang. Das Gewohnte wird aus seiner gewöhnlichen Betrachtung gerissen und zum Geheimnis … Die Welt verändert sich vor unseren Augen … In dieser anderen Welt müssen die Figuren leben, ob sie traum- oder gar albtraumhaft sein mag … 

… Die Ungewissheit im Umgang mit dem Ich-Konstrukt steckt auch in den anderen Erzählungen des Erzählbandes des japanischen Bestsellerautors, der seit Jahren immer wieder für den Nobelpreis gehandelt wird. Treffend ist der Titel Erste Person Singular daher nicht allein für diese eine Erzählung. Er bildet den Rahmen für alle Geschichten des Bandes …

… In einer anderen sehr gelungenen Erzählung des Buches, Charlie Parker Plays Bossa Nova, macht die berühmte, aber früh verstorbene Jazzlegende eine Platte, die sie gar nicht mehr hätte machen können … Was aus einer so kleinen, netten Fiktion in der Geschichte erwächst, ist wunderbar unglaublich; eben ein echter Murakami … das Thema Erinnerung, Umgang mit erinnerten Geschichten, letztlich mit der Zeit, ist ein verbindendes Element dieser Erzählungen …

… Leider sind nicht alle Geschichten in diesem Band von gleicher Überzeugungskraft für mich. Manche hatte ich nach dem Lesen schon beinahe wieder vergessen. Aber da Erzählungen, wie die beiden erwähnten, kleine Kunstwerke für sich sind, ist Erste Person Singular eine reizvolle Lektüre, auch wenn das Buch nicht der Höhepunkt im Oeuvre des Autors sein wird.  

Kaspar Hauser

Haruki Murakami – Erste Person Singular
Ins Deutsche übersetzt von Ursula Gräfe
Dumont, 2021
ISBN 978-3-8321-8157-4

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