Michael Helm

Heimatliche Fremde

vom 19. August 2015

Die Welt ist klein; die Welt des kleinen Herzogtums Weimar war das schon immer. Auch wenn sie so große Männer der deutschen Literatur beheimatet hat wie Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller. Mir ist Weimar ja nach etlichen Wanderungen schon fast Heimat geworden, obwohl die Stadt vor nicht allzu langer Zeit in der DDR lag. Und die lag bekanntlich unerreichbar weit von uns Wessis entfernt, eben in der Fremde! In der Heimat trifft man auf bekannte Gesichter, das sollte einen nicht verwundern.

Als ich vor einigen Tagen mal wieder am Frauenplan und in Goethes Wohnstube verweilte – ich hing meinen eigenen Gedanken und Planungen zu Goethes Divangedichten nach – da lächelten mich plötzlich einige Augen so herzlich an, dass ich aus allen schönen Träumen um die Deutsche Klassik gerissen ward. Nette Menschen aus Herford! Auch solch ein Fleckchen, das ich Heimat nenne.

Dabei wundere ich mich auf meinen Reisen ja über gar nichts mehr. In den Dolomiten begegnete ich einst in einer abgelegenen Zauselhöhle einer Kollegin. In La Val stand ein anderes Mal ein Fahrzeug mit Kennzeichen HF vor der Nachbarferienwohnung. Nun ja, das kann viel bedeuten im Kreis Herford, aber den dazugehörenden Menschen war ich sogar einmal begegnet. Nicht etwa bei einer Lesung, sondern bei einer Freundin in…, aber das ist eine lange Geschichte. Ja und warum auch nicht, schließlich fährt doch alle Welt auf diesen abgeschiedenen, vergessenen ladinischen Hof in La Val – mitten in den hohen Bergen! Kennen Sie nicht? Diesen Omphalos, diesen Nabel der Welt? Warum sollte es dann nicht auch aus dem verträumten und ebenso weltbekannten Städtchen Enger jemanden hierher verschlagen? Wem langsam hässliche Stirnrunzeln kommen, dem sei geholfen: Enger, das liegt im Kreis Herford in Westfalen, in Ostwestfalen um genau zu sein, so zwischen Herford und Bielefeld ungefähr. Und La Val? Das ist ein Nest in den italienischen Alpen. Man spricht dort Ladinisch oder Deutsch oder Italienisch oder was weiß ich. Und Zauselhöhlen, das sind… Ach, da müssen Sie jetzt schon selbst nachlesen!

Wo sich die Kreisherforder so rumtreiben! Nicht zu vergessen sei hier der italienische Kellner, der uns unter der antiken Sonne Siziliens verwöhnt hatte und der vor Jahren in Herford regelmäßig zur Arbeit gegangen war oder die Rucksacktouristin auf Korsika, die meinen Herrn Schwiegerpapa anhand eines Fotos auf dem Schreibtisch ihres Kollegen erkannt hatte. Wiedererkannt wäre falsch, denn sie war ihm vorher nie begegnet. Das Foto war übrigens keine Porträt- sondern eine Gruppenaufnahme, auf der man meinen Schwiegervater wenn überhaupt, dann nur am Rand und vor knapp dreißig Jahren mit viel mehr Haaren hätte sehen können. Manche Menschen erinnern sich an alles. Sie wusste sogar seinen Namen, mit dem sie ihn herzlich und mitten auf Korsika aus dem Konzept brachte. Ihr Kollege habe ihn beiläufig und vor Wochen bei einem Gespräch über das Foto erwähnt. Na also! Mein Schwiegerpapa kannte die Wanderin übrigens von keinem Foto der Welt. So unwahrscheinlich wäre das nun auch nicht mehr gewesen!

Ich höre schnell auf, über solche Zufälle und ihre Häufigkeit nachzudenken, denn sonst komme ich noch auf die Idee, dass die Welt gar nicht so groß ist, wie ich immer glaube. Und dass die Menschen dort vielleicht gar nicht so fremd sind, wie ich es in der großen Fremde vermuten möchte. Sonst wäre ja der Begriff der Fremde völlig verkehrt! Nein, vielleicht ist unter den vielen Menschen, die im Augenblick zu uns kommen, sogar ein Jemand, den wir kennen könnten; kein Niemand, sondern ein Jemand, der uns viel bekannter vorkäme, als es uns lieb sein kann, oder?

mh

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