Ein Tag im Leben Leopold Blooms
Der 16. Juni 1904 war ein besonderer Tag. Für James-Joyce-Begeisterte so besonders, dass sie ihn in der ganzen Welt jährlich feiern. Die einen ziehen sich schmökernd auf die Couch zurück und begleiten Leopold Bloom wieder ein Stück weit durch Dublin, Kapitel für Kapitel. Andere treffen sich und machen verrückte Dinge zusammen, die nur Eingeweihte wirklich lustig finden. Es gibt eben auch richtige Literaturgroupies.
Der 16. Juni ist jedenfalls der Tag, an dem der irische Schriftsteller James Joyce seinen Helden Leopold Bloom einen ganzen Tag nicht nur durch die irische Hauptstadt, sondern durch die ganze europäische Kulturgeschichte wandern lässt. Leopold Bloom und der 16. Juni sind in der Weltliteratur nicht mehr zu trennen.
Grundlage des Werkes ist die homersche Odyssee. Einer solchen Irrfahrt gleich bewegen sie die Protagonisten einen ganzen Tag lang durch Dublin. Es gibt Leute, die behaupten, sie könnten die Stadt anhand der Schilderungen wieder aufbauen, wäre diese einmal gänzlich zerstört. Das wäre logischerweise die museale Rekonstruktion des „Bloomsdays“ im Jahr 1904. Mancher Freak mag sich das im Stillen ja wünschen. Doch auch ohne zerstörerischen Träumen Gedankenraum zu geben, kann man sich in Dublin noch heute entlang der Wege und Orte bewegen, die James Joyce beschrieben hat. Detailliert bewegt sich der Leser in den Gedankenströmen und Gesprächen seiner Figuren durch Straßen, Bibliotheken, Krankenhäuser, Redaktionen, über Friedhöfe und in Lokalitäten aller Art. Gestreift wird darin alles, worin Europa geistig wurzelt: Dichter und volkstümliche Sänger, der große William Shakespeare, die christlichen und jüdischen Wurzeln, von Aristoteles bis Zeus, Anspielungen auf alles und jeden, der oder das unsere Kultur ausmacht – sofern so etwas möglich ist – geschrieben in den unterschiedlichsten literarischen Stilen und Anspielung auf alle denkbaren Kunstformen; Kapitel für Kapitel erfrischend anders. Ein intellektuelles und sprachliches Feuerwerk.
Der Ulysses begeistert die Joyceanhänger, unverkennbar. Einfach zu lesen ist er jedoch nicht – das sei offen gesagt – was dem Buch immer wieder den Ruf der Unlesbarkeit einträgt und manchen Onlinekritiker dazu verleitet Schmähschriften statt Buchempfehlungen zu hinterlassen. „Intellektueller Schwachsinn“ oder „literarischer Durchfall“ sind nur wenige Verunglimpfungen, die mir begegnet sind. Meist sagt das mehr über den Kritiker, als über den Ulysses. Jeder hat seinen eigenen Geschmack. Ich schätze dieses Buch, weil es mich schon ein Leben lang begleitet. Jährlich mit anderen Menschen zusammenkommen und sich Kapitel für Kapitel austauschen, immer wieder Neues entdecken und verstehen, was einem vor Kurzem noch schleierhaft schien – was will Literatur denn noch mehr. Das – liebe Ignoranten jeder gepflegten Verrücktheit – macht tatsächlich Freude! Kaum zu Glauben, oder?
Ich treffe jedenfalls heute wieder herrlich verrückte Geister, die sich trauen, beim Guinness Verrücktes zu lesen und zu denken. Und danach gibt’s Fußball, ein verrücktes Bloomsdayvergnügen eben. In diesem Sinne: Happy Bloomsday!
mh