Die Kolumne
Von Frank Müller
Der Patentanwalt aus Bielefeld, Jahrgang 1969, schreibt Kolumnen, Radiobeiträge und kurze Prosa. Bis 2007 war er Redakteur des Hörfunkmagazins »Literadium«. 2007 erhielt er den LfM-Bürgermedienpreis. Seit 2008 liest er seine Kolumnen im Rahmen der Sonntagsmatineen »Café…Lese…Lust« in der Stadtbibliothek Herford, mit denen er die Lesungen eröffnet.
Willkommen altes Land!
Die aktuelle Kolumne von Frank Müller
Eigentlich schreibe ich keine politischen Kolumnen. Politiker müssen sich bekanntlich immer mit hässlichen Sachzwängen auseinandersetzen und wir wollen uns heute Morgen doch nur mit dem Wahren, Schönen, Guten auseinandersetzen, nicht wahr? Mit dem, was unser Abendland schön macht und ihm seine ungeheure Anziehungskraft verleiht.
Nun könnte man sagen, dass das, was man früher »Abendland« nannte, spätestens seit dem letzten Weltkrieg moralisch abgebrannt ist, und Deutschland konnte man eine ganze Weile mit Fug und Recht als »Gute-Nacht-Land« bezeichnen. Manche sprechen ja heute noch von »Dunkeldeutschland«, damit sind aber nur ein paar finstere Ecken gemeint, und in welchem Haus gibt es die nicht? Im europäischen Haus eben auch. Dessen Zimmer sind sehr unterschiedlich tapeziert, für jeden Geschmack ist etwas dabei: Die deutsche Suite ist in Mauve gehalten, aber immer mehr Zimmer werden entweder in flammendem Rot oder in Schattierungen von Braun tapeziert.
Die Deutschen mag der Geschmack der exzentrischen Nachbarn zwar stören, aber man hält sich überwiegend diplomatisch zurück und beschäftigt sich mit sich selbst beziehungsweise damit, wie man von anderen gesehen wird. Was die Leute so bewegt, kann man ja z. B. an den Bestsellerlisten ablesen. Auf der deutschen Sachbuchliste stand lange »Darm mit Charme« ganz oben; ein Muss für jeden, der einmal wirklich in sich gehen will. Vielleicht ist unsere Darmflora ja ein Spiegel der deutschen Gesellschaft und Proktologie ist die bessere Soziologie, wer weiss. Fast genauso intim und immer wieder beliebt: Familiengeschichten, gern so aufbereitet, dass sie das ganz große Weltgeschehen widerspiegeln, in dem sie stattfinden. Die große Geschichte im Kleinen gewissermaßen. Exemplarisch hierbei der Bestseller der vergangenen Wochen: »Altes Land« von Dörte Hansen und wo wir nur an Boskop denken und der Hamburger an ein Refugium für die Flucht aus der stressigen Hansestadt, denkt Frau Hansen in ihrem Debütroman an Mütter, Töchter und das Schicksal der Vertreibung.
Jemandem, der sich mit dem historischen Diskurs in Deutschland nicht so gut auskennt, muss man jetzt erklären, dass »Flucht« hier immer »Vertreibung« genannt wird, jedenfalls dann, wenn es sich um das Geschehen in den deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg handelt. Dieses ist mittlerweile historisiert und wird durch Erzählungen wie die von Frau Hansen persönlich erfahrbar: als Schicksal einer Vorgängergeneration, also nicht als eigenes, aber das derjenigen, die einem am nächsten stehen, Familienschicksal also. Und obendrein endet alles gut, in einem wohlhabenden und behaglichen Deutschland, und wenn man es ganz weit gebracht hat, sogar unterm Reetdach im Alten Land, mit gedecktem Apfelkuchen auf dem Kaffeetisch.
Diese Idylle wird allenfalls durch die neuen Flüchtlinge von heute gefährdet, die womöglich gern einen Krümel vom Kuchen hätten, vielleicht zukünftig auch selbst mal einen für uns backen, auszuschließen wäre das nicht. Diese Flüchtlinge werden übrigens nie als Vertriebene bezeichnet, und in den beliebten Familienromanen, die der Literaturbetrieb jedes Jahr zuverlässig ausspuckt, kommen sie auch nicht vor.
Über Vergangenes zu schreiben, wurde im deutschen Literaturbetrieb lange Zeit mit Vergangenheitsbewältigung gleich gesetzt. Mir scheint, es wird jetzt die nächste Phase eröffnet, in der man sich daran erfreut, dass dieser Bewältigungsprozess des vergangenen Ungemachs unserer Mütter, unserer Väter abgeschlossen scheint und sich damit einfacher als literarisches Material eignet. Oder wie Primo Levi sagt: Überstandene Zores lassen sich gut erzählen. Und aus diesem Zores lässt sich auch prima Wohlfühlliteratur stricken.
Unter deren Lesern solcher Art von Feel-good-Literatur dürften sich nicht wenige finden, denen die Transferleistung vom Gelesenen – das womöglich dem eigenen Schicksal gleicht – zu der Realität der Flüchtlinge von heute nicht recht gelingen will. Sicher wäre es eine grobe Unterstellung, hier stets einen Mangel an Empathie zu vermuten. Aber nur europäische Werte zu beschwören und nicht danach zu handeln, reicht eben nicht. Nur zur Erinnerung: Wir leben in einem Land, in dem sich als oberste moralische Instanz Til Schweiger exponiert – und wenn ich auch Herrn Schweiger als Schauspieler nicht schätze: Er wäre vielleicht ein besserer Politiker als mancher, der heute gewählt ist.
© 2015 Frank Müller